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Herz, Seele, Liebe, Tod

Die Urszene der Literatur – das Lesen – ist eine Seelenwanderung auf Zeit, die zwei menschliche Eigenschaften besonders schult: Einfühlungsvermögen und Phantasie.

Lesen setzt voraus, dass wir vergessen können, dass wir nur Buchstaben sehen und uns zumindest für eine gewisse Zeit auf die beiden großen Themen der Literatur einlassen: Liebe und Tod.

Foto: DLA Marbach

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+++ Jeder der Galgenbrüder besaß ein eigenwilliges Stammtisch-Exemplar der aufgeführten Gedichte: lose, in ein Hufeisen eingelegte, von den unterschiedlichen Händen beschriebene und verzierte Blätter. 

Foto: DLA Marbach

 

 

 

 

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+++ Morgenstern ist in der Runde der Brüder, die Namen haben wie Schuhu, Veitstanz und Verreckerle, das Rabenaas und interpretiert die „Weltauffasserraumwortkindundkunstanschauung“: „Betrachten wir den ‚Galgenberg‘ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes. Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andre Dinge als Andre.“

+++ Die Aufführung im „Überbrettl“ war so erfolgreich, dass Morgenstern seine Galgenlieder im Verlag von Bruno Cassirer 1905 drucken ließ – mit einer Einleitung, verfasst von den fiktiven Gelehrten Jeremias und Gundula Mueller aus „Köpenick/Athen“. Sie ordnen die Galgenlieder pseudohistorisch und mithilfe einer wissenschaftspoetischen Eigensprache ein: „Zuerst war am Galgenhügel der Galgen das Wesenzielle, jetzt ist es der Hügel.“

 

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+++ Die eigenwilligen Gestaltung stimuliert das genaue Hinschauen, das lebendige Vorstellen, Vortragen und Inszenieren, das „Performen“ schon beim Lesen. Ein lächelndes Galgenmännchen findet sich ebenso wie rote Blutstropfen aus Sigelwachs, Herzen und Muscheln.

Morgensterns Galgenlieder zum Blättern

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1901, Frühling: Manuskriptbuch der „Galgenlieder“ von Christian Morgenstern (1871–1914)

 

Das ungewöhnliche Manuskript stammt aus dem privaten Aufführungszusammenhang davor. Die Galgenbrüder – eine von Morgenstern und sieben anderen Studenten 1895 gegründete Künstler-Brüderschaft – nutzten es bei ihren kultisch-ästhetischen Treffen: „Zuvörderst wird das Licht verdreht, ein schwarzes Tuch dann aus dem Korb und übern Tisch gezogen, mit Schauderzeichen reich phosphoresziert, und bleich ein einzig Wachs inmitten der Idee des Galgenbergs entnommener freudig-schrecklicher Symbole.“

Im Frühling 1901 wird das „Spiel- und Ernst-Zeug“, an dem Morgenstern seit nun über sechs Jahren schreibt, das erste Mal öffentlich aufgeführt – im neu gegründeten Berliner Kabarett ‚Überbrettl‘.

Foto: DLA Marbach

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… auf der Rückseite: beginnt Hesse den bis heute unveröffentlichten Text mit einer gezeichneten und erzählten Wellenlinie:

„Welle. Von meiner Fackel rauhen Licht geweckt / Glänzt eine schwache Welle flüchtig her, / Schwillt dunkelpurpurn aus dem Dunkel leckt / Am Bug empor – erlischt – stirbt sanft im Meer.“ 

Entsprechend berauschend ist die Wirkung von Elise:  „In heißen Wogen / Stieg brennend mir zur Haupt das rasche Blut“.

 

1901, Oktober:: „Elise“ von Hermann Hesse (1877–1962)

 

Hesse nutzt als Schreibpapier für seine in Venedig spielende Verserzählung die Stücke eines in vier Exemplaren zerschnittenen Kunstdrucks ‚Mädchenblüte‘ – wer möchte, der kann (statt zu lesen und sich von Elise berauschen zu lassen) die Drucke zumindest teilweise wieder zusammensetzen.

Fotos: DLA Marbach

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+++  Erst im Nachhinein inspiriert die Reise Hofmannsthal doch noch: „Die Reise nach Griechenland“, beginnt er den 1914 abgeschlossenen Essay „Augenblicke in Griechenland“, „ist von allen Reisen, die wir unternehmen, die geistigste. Hierher am wenigsten schickt uns halbsinnliche Neugier, die der geheime Untergrund so vieler Reisen ist und immer gewesen ist, und wir sind fast befremdet, wenn uns Griechenland, schon ehe wir es betreten haben, mit dem empfängt, woran wir hier am wenigsten gedacht hätten: einem bezaubernden, ganz orientalischen Duft, gemischt aus Orangenblüten, Akazien, Lorbeer und Thymian.“

Foto: DLA Marbach

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Foto: DLA Marbach

1908, Mai und November: Fotos von Harry Graf Kessler (1868–1937) mit Hugo von Hofmannsthal und Aristide Maillol in Griechenland und Rainer Maria Rilke in Paris

 

Besitzen Orte eine Seele, beseelen sie uns? Im Mai schauen Kessler, Hofmannsthal und Maillol zusammen Athen und Delphi an. Hofmannsthal – der auf einem der Fotos aus dem kastalischen Quell trinkt, der Sage nach Ursprung der dichterischen Inspiration – reist allerdings nach anderthalb Wochen überstürzt ab.

Im November besucht Kessler Rilke im Hôtel Biron, einem in Künstlerateliers umgewandelten Pariser Stadtpalais: „Rilke hat einige Empire Stühle und einen großen alten Barocktisch als Arbeitstisch hineingestellt; auch einige Konsolen, auf denen Schüsseln mit schönen reifen Früchten und Blumen stehen. Eine Büste von seiner Frau steht vor dem Gartenfenster. Sonst ist Alles leer, aber infolge der schönen Proportionen und des schönen Lichts nicht kalt.“ Rilkes Mitbewohner sind neben seiner Ehefrau Clara unter anderem Jean Cocteau, Henri Matisse und Auguste Rodin.

Foto: DLA Marbach

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Heimweh

Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn.

Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
Weiß ich nicht zu deuten.

Die Nacht ist eine Stiefkönigin.

Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
Und küsse die Bilder meiner Sterne.

Meine Lippen leuchten schon
Und sprechen Fernes,

Und bin ein buntes Bilderbuch
Auf deinem Schoß;

Aber dein Antlitz spinnt
Einen Schleier aus Weinen –

Meinen schillernden Vögeln
Sind die Korallen ausgestochen,

An den Hecken der Gärten
Versteinern sich ihre weichen Nester.

Wer salbt meine toten Paläste –
Sie trugen die Kronen meiner Väter,
Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.

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Rückseite:

Foto: DLA Marbach

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+++  Else Lasker-Schüler zeichnet in diesen Jahren häufig die Stadt Theben, ihre Einwohner und Himmelserscheinungen auf ihre Briefe und Gedichte – und so immer auch etwas von dem, wie sie sich selbst kleidet und sieht: als Teil einer bunten, märchenhaft-fernen Welt.

+ zu Bild und Text bei Else Lasker-Schüler

912, 17. Oktober: Else Lasker Schüler (1869–1945) schenkt Paul Zech (1881–1946) ihr Gedicht Heimweh

 

Zech, der wie Else Lasker-Schüler in Wuppertal aufwuchs, war auf ihr Anraten hin im Juni nach Berlin gezogen. »Er schreibt mit der Axt seine Verse. / Man kann sie in die Hand nehmen, /So hart sind die«, wird sie ein Jahr später sagen. Ihre eigenen Gedichte zeigen häufig das Bild einer bunten, märchenhaft-fernen Welt.

Foto: DLA Marbach

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… mehr wissen und lesen: Else Lasker-Schüler bringt die biblische Josephs-Geschichte mit der Kunstfigur zusammen, zu der sie sich selbst stilisiert hat: „Prinz Jussuf von Theben“:

„Meine Brüder / Die Bibel ist falsch übersetzt – es heißt so: als Ruben sah, daß seine Brüder den Liebling Jakobs, den Sohn Rahels, ihren Halbbruder in die Grube werfen wollten, erschrack er sehr, aber ließ so geschehn. Am Abend jedoch, als die Brüder schliefen, ging er heimlich an den Ort, darin sein armer Halbbruder Jussuf schmachtete und holte ihn aus dem Graben, tauchte seinen Rock in Lammblut, daß seine Brüder Glaubens waren, ein wildes Tier habe Jussuf zerrissen.“

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… Else Lasker-Schülers Selbstporträt mit Herz („Die lyrische Mißgeburt“) von 1901:

Foto: DLA Marbach

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… Else Lasker-Schülers blaues Sigel mit Mond auf einem Briefkuvert:

1913, 29. Januar: Else Lasker-Schüler an Franz Marc

 

Ein tränendes Herz, das Blutstropfen in einen Kelch weint? Schon dreizehn Jahre zuvor malt sich Lasker-Schüler mit einem Tränenherz, und Jahrzehnte später wird sie es immer noch als ihre Metapher und ihr Zeichen verwenden – so wie den Mond, mit dem sie nachtblau die Briefe an den Maler Franz Marc siegelt.

Seit Dezember 1912 schreibt sie dem elf Jahre jüngeren Maler Franz Marc, der zusammen mit Wassily Kandinsky Mitbegründer der Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“ ist. Dessen erste gemalten „blauen Pferde“ kommentiert sie: „O, dein Spielpferd – mein drolliges Bucefalos, mein altmodisches Schauckelpferd vom Krimskramsboden des Palastes – mein Reiterpferdchen – aus drolliger Spielfarbe, Herzkarmin­rot.“  Mit herzkarminroten Tränen unterschreibt sie hier.

Foto: DLA Marbach

1915, 28. Dezember: eines der Kriegstagebücher von Ernst Jünger (1895–1998)

 

Seit Ende 14 ist Jünger als Kriegsfreiwilliger in Frankreich. Bis zum Kriegsende 1919 wird er 15 Hefte mit rund 1.500 Seiten füllen, darunter immer wieder Zeichnungen wie hier eine Art Memento mori mit Kreuz und Totenkopf nach einem Angriff in einer Dorfkirche (die Idee zu dem schraffierten Feld dürfte er aus einem seiner Lieblingsromane, Lawrence Sternes „Tristram Shandy“, genommen haben: das schwarze Rechteck steht dort für die Grabplatte des Pastors Yorick).

Foto: DLA Marbach

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… Tucholsky weiße Fahne der „bedingungslosen Kapitulation“, die er Mary am 16.2.1918 schickt:

Foto: DLA Marbach

1918, 2. März: Kurt Tucholsky (1890–1935) an Mary Gerold (1898–1987)

 

Tucholsky ist ein Meister im Erfinden von Liebesbriefstilen,
-figuren und -gaben. Er lernt Mary 1917 kennen, 1920 heiratet er eine andere, von der er sich scheiden lässt, um 1924 Mary zu heiraten, von der er sich 1933 trennt.

Foto: DLA Marbach

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Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere … Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund … Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht, 

wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit
Wird euch langsam namenlos im Munde?
Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit. 

Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
Diese Süße, die sich erst verdichtet,
um, im Schmecken leise aufgerichtet,

klar zu werden, wach und transparent,
doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig – :
Oh Erfahrung, Fühlung, Freude, – riesig!

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Heil dem Geist, der uns verbinden mag;
denn wir leben wahrhaft in Figuren.
Und mit kleinen Schritten gehn die Uhren
neben unserm eigentlichen Tag.

Ohne unsern wahren Platz zu kennen,
handeln wir aus wirklichem Bezug.
Die Antennen fühlen die Antennen,
und die leere Ferne trug ….

Reine Spannung. O Musik der Kräfte!
Ist nicht durch die läßlichen Geschäfte
jede Störung von dir abgelenkt?

Selbst wenn sich der Bauer sorgt und handelt,
wo die Saat in Sommer sich verwandelt,
reicht er niemals hin. Die Erde schenkt.

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O erst dann, wenn der Flug
nicht mehr um seinetwillen
wird in die Himmelstillen
steigen, sich selber genug,

um in lichten Profilen,
als das Gerät, das gelang,
Liebling der Winde zu spielen,
sicher, schwenkend und schlank, –

erst, wenn ein reines Wohin
wachsender Apparate
Knabenstolz überwiegt,

wird, überstürzt von Gewinn,
jener den Fernen Genahte
sein, was er einsam erfliegt.

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1922, Februar: Abschrift der „Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke (1875–1929) für seinen Verleger Anton Kippenberg (1874–1950)

 

Orpheus ist eine Figur der antiken Mythologie: Er konnte mit seinem Gesang Menschen und Götter, aber auch Tiere, Pflanzen und Steine betören. Die Bäume neigten sich ihm zu, wenn er auf der Lyra spielte, die wilden Tiere wurde freilich und die Felsen weinten.

Rilke zählt in seinen Sonetten unter anderem die Geschenke der Erde auf: Apfel, Birne und Banane, Stachelbeere, Orange, Anemone und sogar Dünger („Doch Haufen von Dünger / lagern als satteres Schwarz in den Aun“). Punkt, Komma und Gedankenstrich nehmen bei ihm einen eigenen Platz ein: „[Di]e mehr sorgfältige als schöne Abschrift wollte vor allem deutlich sein, im Hinblick auf eine spätere Drucklegung“.

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… wenig später schreibt Tucholsky an die so lang umworbene, dann geheiratete und dann betrogene Mary (die für ihn „er“ ist) noch einen letzten Brief, den er in einen Umschlag packt, damit sie ihn vernichten kann, falls sie ihn nicht lesen mag: „Wenn Liebe das ist, was einen ganz und gar umkehrt, was jede Faser verrückt, so kann man das hier und da empfinden. Wenn aber zur echten Liebe dazu kommen muß, daß sie währt, daß sie immer wieder kommt, immer und immer wieder –: dann hat nur ein Mal in seinem Leben geliebt. Ihn.“

1935, 6. August: Kurt Tucholsky (1890–1935) an Hedwig Müller (»Nuunchen«)

 

Tucholsky lebt seit 1930 in Schweden und schreibt kaum noch – allerhöchstens „Schnipsel“ eines „aufgehörten Deutschen“ und „aufgehörten Dichters“: „Für mich sind die Gegenstände tot, ich aber auch.“ Am 19. Dezember stirbt er an einer Überdosis Schlafmittel. 

Foto: DLA Marbach

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Meine Allersüsseste, Gute! Deinen so herzigen Brief vom 13. hab ich mindestens ein Dutzend Male mit dem innigsten Vergnügen gelesen, gestern und heut’. Du bist so süss, ich liebe Dich! Nur um Dir dieses noch zuzurufen habe ich heut’ noch das Blatt und die Feder genommen. Es ist wieder spät nachts, ich muss jetzt, trotz der herrschenden Hitze (sie macht mir nicht allzuviel und ist mir lieber als Kälte) noch ein paar Stunden zu schlafen versuchen. Ich bin immer in Liebe und Treue bei Dir als Dein Dir ganz gehörender Mann Heimito«

1941, 19. Juni: Heimito von Doderer (1896–1966) an seine spätere Frau Emma Maria Thoma (1896–1984)

 

Der in Paris als Soldat stationierte Doderer inszeniert um das „Ich liebe Dich“ ein kleines Briefkunstwerk im Querformat. 

Foto: DLA Marbach

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Die Lagerorchester spielten unter anderem auch einen Tango, mit dem Titel „Plegaria“, „Gebet“. Des Argentiner Eduardo Bianco hatte diesen Tango 1929 komponiert und 1939 Hitler und Goebbels in Berlin vorgespielt. In den Lagern bekam die Tangomelodie einen neuen Text – eine grausame, zynische Kontrafaktur: „Hörst Du, wie die Geige schluchzend spielt?/ Blutig klingen ihre Töne/ Hörst Du, wie dein Herz sein Ende fühlt?/ Der Todestango spielt“ (statt: „Plegaria que llega a mi alma / al son de lentas campanadas, / plegaria que es consuelo y calma / para las almas desamparadas“, „Gebet, das meine Seele erreicht / zum Klang der langsamen Glockenschläge, / ein Gebet, das Trost und Ruhe gibt / für hilflose Seelen.“)

1944/1945: frühe Fassung des Gedichts „Todesfuge" von Paul Celan (1920–1970)

 

Das Gedicht wird 1947 in rumänischer Übersetzung als erste Veröffentlichung Celans überhaupt in der Zeitschrift ‚Contemporanul‘ unter dem Titel „Tangoul Mortii“ („Todestango“) erscheinen: „Das Gedicht, dessen Übersetzung wir veröffentlichen, geht auf Tatsachen zurück. In Lublin und anderen ‚Todeslagern‘ der Nazis wurde ein Teil der Verurteilten gezwungen, aufzuspielen, während ein anderer Gräber schaufelte.“ Die Lagerorchester spielten unter anderem auch einen eigens dafür umgeschriebenen Tango. 1948 ändert Celan den Titel in „Todesfuge“.

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