Luke Heuser / Einleitung zum Vortrag „Zwischen Materialität und Bedeutung. Überlegungen zum spezifischen Darstellungspotenzial von Literaturpodcasts“
Ich beginne in medias res, und zwar mit einer ebenso simplen wie grundlegenden Frage: Was geschieht eigentlich in einem Literaturpodcast? Zwei oder mehr Menschen setzen sich zusammen und sprechen mehr oder weniger spontan und mit einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Willen zur Interpretation über einen literarischen Text – und zwar mit dem Ziel, den Mitschnitt des Gesprächs als Podcast zu veröffentlichen. So könnte eine Minimaldefinition lauten. Ein Gespräch: und zwar keines in einem fachwissenschaftlichen Rahmen – also etwa auf einer germanistischen Tagung wie der unseren –, sondern ein wesentlich offenes, nicht durch die mehr oder minder engen Grenzen der wissenschaftlichen Methodologie beschränktes Gespräch. Wie könnte ein solcher Literaturpodcast, strukturlogisch bestimmt durch seine Verfasstheit als lebendiges Gespräch einerseits und andererseits seinen Willen zur Interpretation, verlaufen? Denn zugelassen, ja mitunter ausdrücklich erwünscht ist in ihm die Äußerung der Emotionen und subjektiven Eindrücke des Einzelnen, zugelassen ist weiterhin die Eigendynamik, die in einem Gespräch durch Meinungsverschiedenheiten entstehen kann.
Stellen wir uns also vor, dass der Text in den Podcastteilnehmern ganz verschiedene, sich gegenseitig widersprechende Eindrücke und Gefühle auslöst. Hiervon entflammt, entspinnt sich zwischen den Kombattanten eine immer hitziger werdende Auseinandersetzung. Denn nichts verteidigt man mit solcher Energie wie seine vermeintlich unmittelbar evidenten subjektiven Eindrücke, und zwar gerade dann, wenn es um Kunst geht – das hat jüngst Johannes Franzen in seinem Buch Wut und Wertung gezeigt. Der Inhalt dieser Auseinandersetzung – die subjektiven Eindrücke und Gefühle der Teilnehmer – und ihre Form – emotional aufgeladenes, hastiges Hin- und Widerreden – befeuern sich nun aber gegenseitig. Beide Aspekte befinden sich auf der Ebene des Subjektiven, die sich deshalb in immer ausschließlicherem Maße geltend macht. Bald dreht sich das Gespräch beinahe nur noch um subjektive Befindlichkeiten, wird endgültig aggressiv-persönlich statt sachlich. Da aber zu jedem Subjekt traditionell auch ein Objekt gehört, stellt sich die Frage, was in einem solchen, sich vielleicht bis zum handfesten Streit auswachsenden Szenario eigentlich mit jenem Objekt geschieht. Denn das Objekt ist ja hier nichts anderes als der Text, den zu interpretieren eigentlich Sinn und Zweck des Podcasts war. In meinem fiktiven Szenario hat sich der Fokus der Auseinandersetzung aber so aufs Subjektive verlagert, dass der Text selbst nur noch eine Nebenrolle spielt. Das wäre fatal: Denn so aufgelockert, durch subjektive und unterhaltsame Aspekte ergänzt der Interpretationswille im Literaturpodcast auch sein mag – er ist dennoch einer seiner zentralen Bestandteile. Der Begriff der Interpretation nun ist wiederum nicht ablösbar von der Idee objektiver Erkenntnis des Textes selbst – statt bloß subjektiver Wahrnehmungen.
Dieses Szenario ist selbstverständlich zugespitzt, und wenn man es pragmatisch betrachtet, würde wohl nicht jede derart ausartende Podcastfolge überhaupt veröffentlicht werden. Der Tendenz nach scheint sich darin aber doch eine Gefahr zu zeigen: nämlich das Sichhervordrängen subjektiv-emotionaler Elemente auf Kosten der sachlichen Beschäftigung mit dem Text selbst. Und zwar in weitaus höherem Maße, als es die Stellung des Podcasts zwischen thematisch offenem, gleichsam lebendigem Gespräch einerseits und dem Interpretationswillen andererseits rechtfertigt. Sind Literaturpodcasts also, gerade was die Interpretation angeht, der wissenschaftlichen und überhaupt jeder schriftlichen Form der Auseinandersetzung mit Literatur hoffnungslos unterlegen? Sind die einzigen Argumente, die für sie sprechen, wirklich nur Unterhaltsamkeit und Vermarktungspotenzial, nicht aber eine spezifische Erkenntnisqualität?
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