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Agnes Günthers Brief

 

Drei Imaginationen von Stefanie Köpf

Imagination 1

 

Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin und nun Langenburgerin? Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin, nun Langenburgerin, Kaufmannstochter, Pfarrfrau, Mutter zweier Söhne und an Schwindsucht Leidende? Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin, nun Langenburgerin, Kaufmannstochter, Pfarrfrau, Mutter zweier Söhne, an Schwindsucht Leidende und spätere Autorin eines Bestsellers im Jahre 1907? Was schreibt sie ihrer Freundin?

 

Agnes Günther an Anna Schnizer

Langenburg, ohne Datum?

Liebe Anna?

Hat mich Dein Brief erst vor wenigen Tagen erreicht? Möchte ich Dir für Dein liebes Vertrauen danken, das mir gerade in diesen Monaten so viel bedeutet? Werden mir Deine Ermunterungen noch teurer, wenn ich mich daran erinnere, dass Du Dir in Deinem großen und vollen Haus jeden freien Moment, den Du auf das Beantworten meiner Briefe verwenden kannst, tapfer erstreiten musst? Sage ich Dir tausendmal Danke für Deine Worte, die ich mir immer dann zu Herzen nehme, wenn es laut um mich ist und ich mich nach Einfachheit und Stille sehne?

Hast Du mich nach meiner Gesundheit gefragt und wünschte ich mir, ich könnte Dir berichten, sie sei besser geworden? Müsste ich Dir sagen, wenn ich ehrlich sein wollte, dass die große Schreibezeit, der Drang – bitte lach mich nicht aus, wenn bitte lach mich nicht aus, wenn ich Zwang sage – nicht gerade für Besserung sorgt? Und danke ich trotzdem Gott, dass er mir diese Schreibezeit geschickt hat, die bis jetzt anhält und wohl noch weiter anhalten wird? Stell Dir vor: ein Roman? Ein Roman, für den ich meine häuslichen Arbeiten vernachlässige und sogar den Garten? Sah ich gestern in der Früh, dass die Gurken und die Kohlköpfe schlapp und traurig im Beet standen? Wenn sie kein Wasser bekommen, werde ich ihnen das verübeln können? Und das wegen eines Romans, wegen einer Geschichte? Habe ich Glück, dass Rudolf meine Neigung zum Schreiben mit Verständnis und mit Wohlwollen sieht und mich nicht fragt, wieso ich allzu oft den Schreibtisch dem Garten und den Wiesen und Feldern vorziehe – und wieso die Gurken und die Kohlköpfe so aussehen, wie sie aussehen?

Frage ich mich in stillen Nächten, ob dieser Roman meine Zerstreutheit wert ist? Ob er gut ist? Sticht mich dann der Stachel, der böse Verdacht, meine Geschichte habe keine eigene Art, sei nichts Selbständiges? Sie sei zu sehr ein Märchen, ein langes Märchen? Aber soll sie nicht gerade das sein? Wenn mich derlei Gedanken plagen, sage ich mir dann: Urteile erst, wenn die Geschichte fertig ist? Ist das Halbe noch kein Ganzes? Tut man ihm Unrecht, wenn man es als ein Ganzes behandelt? Geht man denn mit seinen Kindern um, als seien sie Erwachsene? Nein, wir geben doch auch unseren Kindern Zeit, zu wachsen und zu reifen – Rede ich dann so mit mir? Will ich so gerecht, wie ich gegen meine Söhne sein will, auch gegen meine Geschichte sein?

Werde ich zum Schluss versuchen, Deine schwierigste Frage zu beantworten? Ob ich meinen Roman veröffentlichen werde? Kennst Du meine Zweifel? Wünschte ich, ich könnte mir so sicher sein wie mancher Mann, der, überzeugt von seinem Können und Geschick, sein Werk dutzenden Menschen anbietet, die etwas von Literatur verstehen, bis sich ein Verleger findet, der sich bereiterklärt, es zu drucken? Aber wenn das nicht meine Art ist? Also werde ich Dich auf eine eindeutige Antwort warten lassen müssen, bis ich den Roman fertig habe? Werde ich dann entscheiden, was mit ihm geschehen soll?

Wird mir meine Geschichte bis dahin eine jugendliche Nachbarin sein, die ihr Wesen erst noch ausbilden, die reifen muss? Und wenn sie erwachsen sein wird, werde ich sie dann fragen, ob sie hinaus in die Welt möchte?

Danke ich Dir, dass Du an meinen Gedanken teilnimmst, und hoffe ich auf eine baldige Antwort? Vielleicht möchtest Du mir sagen, ob Deine Else immer noch so gerne wie im letzten Sommer mit Bleistift und Zeichenpapier im Garten sitzt?

Mit Wünschen und Grüßen?

Deine Agnes?

 

Agnes Günther in Langenburg (Jagst) an Anna Schnizer, geb. Mohr, Pfarrfrau in Kirchberg (Jagst) – Wortlaut der Abschrift (Die durchgestrichenen Stellen sind im Original mit blauem Stift durchgestrichen; die (auch hier) blauen Wörter sind mit demselben blauen Stift nachgetragen.)

Langenburg 1.März

Liebe Anna!

Vielen Dank für Deinen lieben Brief, der mich sehr gefreut hat, ich fühlte ihn kommen. Ich bin nun wieder auf, zum Teil wenigstens, leider kann ich noch nichts tun, sehr schmerzlich, wenn so viel Geschäft Hurrah schreit, wie Deine Awa sagen würde. Sehnt sie sich auch nach ihrem Garten? Ich auch u. wie! Heute fand ich ein Gänseblümchen, das hat mir doch gelächelt!

Dass Du meinen Erich so beschenken willst, hat mich sehr erfreut. Bis je jetzt erfüllt ihn jedes Confirmationsgeschenk mit gelindem Grausen. Neulich meint er, wenn ich nicht in die christl. Kirche eintreten will, muss ich auch nicht confirmiert werden. Die Zukunft erscheint ihm rabenschwarz, er will nicht fort, u. er möchte im Kindheitszustand verharren, weil man da noch spielen darf. Über das schöne Gerhardbuch von Schäfer würde er sich sehr freuen, viel mehr als über etwas anderes. Neulich sahen wir einige Illustrationen daraus, darunter das sehr schöne der Matrone, die die Bibel liest u. über deren Haupt eine Krone aus Herzen schwebt, mit Kinderstrümpflein, Laiblein u. Häublein behangen. Die Frau gefiel mir in ihrer schönen mütterlichen Ruhe sehr gut, u. ich meinte nur „Schade wir modernen Frauen bringen diesen schönen Typus nicht mehr heraus, wenn uns auch keine verspätete Jugendlichkeit mehr anklebt, wir werden der Frau da nie ähnlich werden. Es fehlt uns glaub ich wohl die Würde. Rudolf meinte, von allen jüngeren Frauen die ich kenne hat allein Deine Freundin Anna Anwartschaft auf diese Frauenkrone, sie allein wird einmal das Ideal da verkörpern. Ich meinte, sie hat es auch gut, sie ist die Schönste von uns. Aber der Gemahl weiss es besser: „nein die mütterlichste von Euch allen.“ Siehst Du da hast Duś – Wir andern geben nur so ältere junge Frauen, Du aber! Hoffentlich bildest Du Dir etwas darauf ein! Meines Gerhards Militairpapiere hab ich versandt, auch ein Lebensabschnitt! Guter Bub ist er ja immer noch! Deine Awa wird auch einmal für ihren Heinrich bangen. – Nächsten Sonntag darf ich zum erstenmal seit Weihnachten wieder in die Kirche, ich freue mich sehr. Sonst war meine Krankheit stellenweise sehr unterhaltend, auch gewiss reich. Ich genire mich immer ein wenig, wenn ich bedauert werde und komme mir wie Vorspiegelung falscher Tatsachen vor. Was hab ich // nicht alles gelesen und zusammen spintisiert. Nach meinen Flickkörben hatte ich kein Heimweh! Vorher ehe ich mich ins Bett legen konnte, habe ich mich sehr quälen müssen, nachher wars dann der reine Genuss. Nun krazt das Leben noch ein wenig. Dir nochmals vielen Dank und die herzl. Grüsse von meinem 1. Mann und Erich und besonders

von Deiner treuen Agnes.

Deinem 1. Mann u. Anna

Awa herzl. Grüsse.

Awa = die Großmutter Marie Mohr geb. Osterich.

Für die Richtigkeit
Pfarrer i R. Mohr de Sylva

Imagination 2 

 

In ihrem Brief schreibt Agnes Günther von einer Illustration Rudolf Schäfers in einem Buch mit den Liedern Paul Gerhardts: „Neulich sahen wir einige Illustrationen […], darunter das sehr schöne der Matrone, die die Bibel liest u. über deren Haupt eine Krone aus Herzen schwebt, mit Kinderstrümpflein, Laiblein u. Häublein behangen. Die Frau gefiel mir in ihrer schönen mütterlichen Ruhe sehr gut, u. ich meinte nur ‚Schade wir modernen Frauen bringen diesen schönen Typus nicht mehr heraus, wenn uns auch keine verspätete Jugendlichkeit mehr anklebt, wir werden der Frau da nie ähnlich werden. Es fehlt uns glaub ich wohl die Würde. Rudolf meinte, von allen jüngeren Frauen die ich kenne hat allein Deine Freundin Anna Anwartschaft auf diese Frauenkrone, sie allein wird einmal das Ideal da verkörpern. Ich meinte, sie hat es auch gut, sie ist die Schönste von uns. Aber der Gemahl weiss es besser: „nein die mütterlichste von Euch allen.‘ Siehst Du da hast Du‘s- Wir andern geben nur so ältere junge Frauen, Du aber! Hoffentlich bildest Du Dir etwas darauf ein!“

Wie sieht eine Frau aus, die eine schöne, mütterliche Ruhe ausstrahlt?

Imagination 3

 

Was wäre, wenn Rosmarie, die Hauptfigur aus „Die Heilige und ihr Narr“, Günthers Erfolgsroman, diese Illustration sähe?

 

Fanfiction: Mutterbild

Die Römerwiese blühte. Der Tau war gerade erst verdunstet, und die Sonnenstrahlen erfassten immer mehr der Gräser, Kräuter und kleinen Insekten, die man zwischen ihnen springen sah. Auf der linken Seite fasste ein Wald die Wiese ein, und wenn man den Blick nach rechts wandte, stieg das Gelände zu einem Hügel an. Über dessen Kuppe begann der klare Himmel. Weiße Blumen standen in Kissen zusammen, die auf die Entfernung wie Stücke zarten Stoffs wirkten; dazwischen hatte sich roter Mohn gemengt.

Rosmarie saß im Schatten ihres Gartenhauses, ihren Sohn im Arm. Das Haus stand in der Kühle des Waldes, doch von ihrem Platz aus konnte sie auf die sonnige Wiese sehen. Einzelne Strahlen brachen durch das Blätterdach und ließen Lichtflecken auf ihrem Haar, ihrem weißen Batistkleid und dem Gesicht ihres Sohnes leuchten. Sie hielt ihm die Hand hin, und er griff nach ihrem Zeigefinger, befühlte ihn eingehend und lachte. Nach einer Weile veränderte sich sein Ausdruck, und er wurde schläfrig. Sachte stand Rosmarie auf und trug ihn ins Haus. Sie strich ihm über den Kopf und legte ihn in sein geschnitztes und bemaltes Kinderbett. Harro, ihr Mann, hatte es angefertigt. Harro war an diesem Morgen sehr früh nach Thorstein in sein Atelier gefahren. Rosmarie hatte mit ihrem Kind lieber den Sommertag in der Natur genießen wollen; wozu hatte man denn ein Gartenhaus in der schönsten Ecke des Waldes?

Wie es ihre Gewohnheit war, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und erfreute sich an den schönen Dingen, die sie selbst und vor allem Harro für ihren gemeinsamen Rückzugsort angefertigt hatten. Da blieb ihr Blick an einem Buch hängen, das auf dem Tisch lag und das ihr unbekannt war. Es war in schlichtes, braunes Leinen gebunden und hatte gestern dort noch nicht gelegen. Sie nahm es in die Hand, strich über den rauen Stoff des Einbands und betrachtete es von allen Seiten. Dann schlug sie es in der Mitte auf und blätterte ein wenig darin. Es war ein Buch mit vielen Illustrationen, fast schon ein Bilderbuch. Rosmarie nahm an, dass Harro es wegen der Bilder gekauft haben mochte. Er bekam seine Einfälle oft von fremden Kunstwerken, und so hatte er sich wohl eine weitere Inspirationsquelle zulegen wollen.

Eine der Illustrationen zog ihre Aufmerksamkeit an. Es war eine alte Frau, die die Bibel las. Mit der rechten Hand stützte sie ihren Kopf; die linke lag auf den Seiten des Buches. Sie trug ein weißes Kopftuch und einen Pelzüberwurf und sah so aus, als habe sie gerade von der Lektüre aufgeblickt und als denke sie über das Gelesene nach. Rosmarie strich mit den Fingern über das weiche Papier und fuhr schließlich die Konturen des Bildes nach. Da hatte Harro etwas Schönes ausgesucht. Die Frau auf dem Bild strahlte eine mütterliche Ruhe aus, die Rosmarie bald auch in sich selbst spürte.

Rosmarie fiel keine Frau ein, die sie kannte, die der Dargestellten ähnlich wäre. Sie dachte an ihre eigene Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, weil sie bei ihrer Geburt gestorben war. Ob ihre Mutter nun so aussehen würde, wenn sie ihr damals nicht den Tod gebracht hätte? Rosmarie tat einen tiefen Atemzug. Vermutlich nicht. Diesen ruhigen, zur geistigen Versenkung fähigen, matronenhaften Typus brachten die modernen Frauen nicht mehr hervor. Was fehlte ihnen denn? Die Ruhe? Die mütterliche Würde etwa?

Ihre Stiefmutter Charlotte war das Gegenteil der dargestellten Frau. So sehr sie sich von dieser ruhigen Leserin angezogen fühlte, so sehr – oder noch mehr – war sie von Charlotte abgestoßen. Wir sind zu grundverschieden, dachte Rosmarie. Charlotte fühlte sich auf Schloss Brauneck auch nach all der Zeit nicht wohl, auf dem alten Bau mit seinen alten Gängen und den Gewittern, die im Sommer gegen die Mauern rollten. Sie raste lieber mit ihrem Auto über die Straßen, trug ihr rotes Kostüm, übte mit dem Schießgewehr und war voll Abenteuer- und Feierlust – und voll Abneigung gegen ihre Stieftochter. Diese Abneigung war über die Jahre gewachsen. Rosmarie fühlte nur selten einen leichten Groll gegen Charlotte, meistens war sie ihretwegen traurig. Als Charlotte vor wenigen Jahren schwanger gewesen war und das Kind verloren hatte, da hatte sie Rosmarie für die Fehlgeburt verantwortlich gemacht. Aber Rosmarie ahnte, dass Charlotte eigentlich froh war, kein Kind bekommen zu haben. Es hätte die Freiheitsliebende nur an das alte Spukschloss Brauneck gefesselt. Charlotte würde der Frau auf dem Bild nie ähneln; sie war auf dem Weg, eine ältere junge Frau zu werden, der diese eigentümliche Ruhe vollkommen fehlte.

Und sie selbst? Sah sie in der Illustration ihr Vorbild? Wollte sie einmal so werden? Wenn sie nicht wie Charlotte werden wollte, hieß das dann, dass sie wie diese alte Frau werden wollte? Oder gab es für sie einen dritten Weg? Noch war sie jung. Sie konnte sich zwar stundenlang auf nebensächliche Dinge konzentrieren, sich in sie versenken, weshalb viele Menschen sie seltsam fanden. Aber zu dieser mütterlichen Ruhe fehlte viel. Rosmarie blickte von Harros Buch auf und sah zu ihrem Sohn hinüber, der mittlerweile tief und friedlich schlief. Sie legte das Buch sachte zurück auf den Tisch, ging vors Haus und schaute über die Wiese. Dort flatterten Schmetterlinge mit bunten Flügeln. Sie straffte die Schultern und trat in die Sonne.

Der Erfolgsroman 'Die Heilige und ihr Narr'

Der Roman Die Heilige und ihr Narr ist eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher des 20. Jahrhunderts. Es existieren über eine Million gedruckte Exemplare, und derzeit wird die 146. Auflage verkauft.[1] Dreimal wurde der Roman verfilmt: 1928,[2] 1935[3] und 1957[4]. Heute ist er kaum noch bekannt.

Doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bescherte das Buch dem Verlag J. F. Steinkopf großen kommerziellen Erfolg. Der Antiquar Frieder Weitbrecht, Enkel des damaligen Verlegers Friedrich Weitbrecht, liest aus dem handschriftlich geführten Verlagsbuch die Entwicklung der Auflagen vor:

„Wir sehen hier 1913 im April 3.200 Exemplare, im September 3.300 und im Dezember 3.300. Also im ersten Jahr schon 10.000. Das ist ziemlich flott. 1914 im Februar waren es 6.600, und im Juni 10.000, im September 1914 allein 20.000 und im Dezember noch mal 20.000. Wie teuer war denn das Buch? 4 Mark 50. 1921, im November, noch mal 10.300, 1923 6.600 und so geht es weiter. Und insgesamt bis heute sind, glaub ich, 1,7 Millionen Exemplare auf dem Markt. Von den 1,7 Millionen sind vielleicht 1,65 Millionen vor 1960 verkauft worden. Danach hat es schon sehr nachgelassen.“[5]

Die große Wertschätzung, die der Roman von seinem meist weiblichen[6] Publikum erfuhr, spiegelt sich nicht auf der Seite der Literaturwissenschaft. Eda Sagarra spricht statt von ehrlich empfundenem Christentum von „quasireligiöse[m] Beiklang“[7] in der Schilderung. Ähnlich äußert sich Walther Killy. Er bespricht und kritisiert den Roman gar in der Einleitung zu seiner Monografie Deutscher Kitsch ausführlich, und im zweiten Teil, unter den Auszügen aus ‚kitschigen‘ Werken finden sich gleich drei aus diesem Roman. [8] Er wirft ihm wie den anderen besprochenen Texten „die Unterordnung der Gegenstände unter den Reizeffekt“[9] vor und dass sie „ein reines Gefühl nicht kennen“, denn im Kitsch würde „ein Gefühl sich Intensivierung beim anderen schaffen“.[10]

Bevor man in diesen Chor der Literaturwissenschaft einstimmt, sollte man sich aber dem Text zuwenden und sich fragen: Was machte diesen Roman so faszinierend? Er handelt von Rosmarie, der ‚Heiligen‘, liebevoll ‚Seelchen‘ genannt, einer Fürstentochter aus dem Hohenlohischen, die übersinnlich begabt ist und Geister sieht, die sie ihre ‚Freunde‘ nennt. Als Kind irrt sie am Weihnachtstag durch den verschneiten Wald, weil sie sich von den Bewohnern der Burg Brauneck und besonders von ihren Erzieherinnen nicht verstanden fühlt. Als sie Gefahr läuft, einen Abhang hinunterzustürzen, rettet sie ein fremder Mann – wie sich herausstellt, ist es Harro, der ‚Ruinengraf‘ von Thorstein. Schon hier hat Rosmarie Vertrauen zu ihm gefasst, und als sie älter ist, verliebt sie sich in ihn. Doch ihr Vater – ihre Mutter ist bei Rosmaries Geburt gestorben – hat nicht nur wieder geheiratet, und zwar eine Frau, die einen immer größer werdenden Hass gegen Rosmarie hegt, sondern ist auch gegen eine Hochzeit seiner Tochter mit Harro. Als Charlotte, Rosmaries Stiefmutter, die ihr komplettes Gegenteil verkörpert und eine durchaus moderne Frau ist, die gerne halsbrecherisch mit dem Auto über die Straßen der Umgebung fährt und mit dem Gewehr übt – als diese Frau nun eine Fehlgeburt hat, gibt sie Rosmarie die Schuld daran. Ihr Vater glaubt der Verleumdung, und Rosmarie wird ans Mittelmeer nach Bordighera in eine Villa verbannt. Dort erleidet sie, die sowieso schwacher Konstitution ist, einen Nervenzusammenbruch. Wieder ist es Harro, der ihre Not ahnt und sie besucht. Schließlich erlaubt der Vater die Hochzeit, und das Paar bekommt einen Sohn. Doch die Geschichte endet nicht gut: Bei einem Spaziergang des glücklichen Paares mit Charlottes Bruder über die Römerwiese schießt Charlotte von Weitem mit ihrem Gewehr auf Rosmarie. Die Getroffene überlebt und erfährt, dass Charlotte es war, die auf sie geschossen hat. Diese wird von ihrem Gewissen verfolgt, kann nicht mehr schlafen und lässt ihre Wut weiterhin an Rosmarie aus. Doch die Heldin erträgt die weiteren Demütigungen duldsam und verrät nicht, aus wessen Waffe der Schuss kam. Nach langen Monaten des Leidens stirbt sie schließlich in Harros Armen.

Was macht die Faszination dieser Geschichte nun aus? Ist es die reine Liebe und Seelenverwandtschaft zwischen Rosmarie und Harro, in der es keine Spur von Misstrauen oder gar Bosheit gibt? Ist es das Duell zweier grundverschiedener Frauen? Ist es die mythische Verwobenheit von Vergangenheit und Gegenwart, die durch Rosmaries ‚Freunde‘ in den Roman kommt, vor allem durch das Liebespaar Gisela und Heinz aus dem 17. Jahrhundert? Ist es der christlich-tröstende Schleier, der über alledem liegt? Der Roman bietet viel an. Und so ist für viele etwas dabei.

[1] Vgl. Lutherische Verlagsgesellschaft mbH, unter: https://www.glaubenssachen.de/neuheiten/1106/guenther-die-heilige-und-ihr-narr. Zugriff am 20.09.2023.

[2] Unter der Regie von Wilhelm Dieterle, Drehbuch von Curt J. Braun und Charlotte Hagenbruch: https://www.filmportal.de/film/die-heilige-und-ihr-narr_2378d0e775df4873b8710d4ebe952bfa

[3] Unter der Regie von Hans Deppe, Drehbuch von Peter Francke: https://www.filmportal.de/film/die-heilige-und-ihr-narr_fca2b88bb6cc44b09b0151292b02f900

[4] Unter der Regie von Gustav Ucicky, Drehbuch von Erna Fentsch: https://www.filmportal.de/film/die-heilige-und-ihr-narr_7321750de58943ef9d4be9b3044bebd8

[5] Lerke von Saalfeld: Zwischen Schlössern und Landschaften. Deutschlandfunk Archiv. Beitrag vom 31.05.2011.

[6] Vgl. Eda Sagarra: Günther, Agnes. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 4. Berlin New York 2009, S. 502f., hier S. 502.

[7] Ebd.

[8] Vgl. Walther Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 1962. Zu Agnes Günther in der Einleitung besonders S. 11–13, 17, 28. Auszüge aus Die Heilige und ihr Narr: S. 41–43 (Ich liebe Dich), S. 102 (Frau Musika), S. 155f. (Himmelsbalsam).

[9] Ebd., S. 14.

[10] Ebd., S. 17.

Die Autorin Agnes Günther

Die größere Faszination macht für mich nicht der Text selbst aus, sondern seine Geschichte. Damit man seine Geschichte aber verstehen kann, muss man zuerst Einblick in das Leben seiner Autorin erhalten. Agnes Elisabeth, geborene Breuning, kommt am 21. Juli 1863 als Tochter von Hermann Otto Breuning und Mary „Polly“ Barrell zur Welt. Ihre Mutter ist Engländerin und lebt mittellos bei Verwandten, weil die Familie an der Schwindsucht gestorben ist. Hermann Breuning, Assessor im prosperierenden Bankgeschäft seines Vaters, lernt Polly Barrell bei einem Aufenthalt in England kennen.[1]

Agnes ist das erste Kind des Paares, und es folgen vier Schwestern, von denen die Zweitjüngste nur ein knappes Jahr alt wird, und ein Bruder. Die Familie lebt in Stuttgart in einem Haus an der Königstraße. Der Großvater zieht sich aus dem Bankgeschäft zurück, und in der Gründerzeit laufen die Geschäfte sehr gut. Doch Hermann Breuning zieht sich bei einem Reitunfall ein Schädeltrauma zu, das ihm heftige Kopfschmerzen verursacht und seine Persönlichkeit verändert. Der Vater wird ein Pflegefall und kann nicht mehr im Bankgeschäft arbeiten. Die Familie zieht zweimal um, und nach zwei Jahren stirbt Hermann Breuning. Die Mutter Polly ist mit fünf Kindern auf sich allein gestellt. Das Vermögen ist durch den Lebensaufwand, den Sanatoriumsaufenthalt des Vaters und nicht zuletzt den Gründerkrach merklich geschrumpft. Polly Breuning führt von nun an eine Familienpension, doch diesem Unternehmen ist kein dauerhafter Erfolg beschert. Die Familie muss sich finanziell weiter einschränken. Trotzdem erhält Agnes eine – für ein Mädchen – gute Schulausbildung: Sie besucht als ‚Höhere Tochter‘ das Töchter-Institut Korntal, nimmt privaten Malunterricht und geht mit siebzehn Jahren auf die école supérieure in Neuchâtel. Dort lernt sie französische Konversation, correspondence, Sicherheit in Benimmfragen, aber ebenso kaufmännische Buchführung und gewerbliches Rechnen. In diese Zeit fällt eine starke religiöse Erfahrung, als sie einem Erweckungsprediger zuhört. Sie macht in der Schweiz auch die Bekanntschaft einer schottischen Dame, die Gefallen an ihr findet und sie als Gesellschafterin nach Edinburgh, London und Paris mitnimmt.

Doch das Leben in der großen Gesellschaft in großen Städten ist nichts für Agnes, und in Paris fühlt sie sich verfolgt und erleidet einen Zusammenbruch. Ihre Mutter holt sie zu sich, und der Kontakt zu ihrer reichen Gönnerin bricht ab. Die zwanzigjährige Agnes erholt sich in Korntal, wo sie den ernsten und fleißigen Vikar Rudolf Günther kennenlernt. Die Familie zieht wieder nach Stuttgart, und Agnes und ihre Schwester Emma wollen sich zu gewerblichen Künstlerinnen ausbilden lassen, anstatt einen Mann zu finden, um ihn zu heiraten. Agnes lernt, Muster für Tischdecken, Teppiche und Tapeten zu entwerfen. Doch sie wird wieder krank; diesmal plagen sie Nervenschmerzen. Als sie sich erholt hat, macht ihr recht plötzlich der Vikar Günther, den sie bei ihrer Tante kennengelernt hat, über diese Tante einen Heiratsantrag. Rudolf Günther hat Agnes Breuning davor nur zweimal gesehen. Doch sie fühlt sich für diesen Mann bestimmt, und umgekehrt ist es genauso. Die emanzipatorischen Pläne vergisst sie und heiratet ihn.[2]

Rudolf Günther wird Hilfspfarrer in Blaubeuren, und Agnes – nun Agnes Günther – leitet als Pfarrfrau einen Mädchenkreis. Sie liest theologische Bücher, um ihr fehlendes Wissen aufzuholen. Das Paar lebt aber in recht ärmlichen Verhältnissen, und so trüben die finanziellen Sorgen die Freude auf das Kind, als Agnes im Frühjahr 1889 schwanger wird. Auch die Schwiegermutter hält nichts von einem Kind und wirft ihrem Sohn vor, nur ‚Helfer‘ anstatt Professor zu sein und eine Frau ohne große Mitgift geheiratet zu haben. Am 29. September 1889 kommt Sohn Gerhard zur Welt.

Die Verhältnisse bessern sich, als Rudolf Günther im Herbst 1891 die Dekanatsstelle in Langenburg annimmt. Hier findet das Paar Anschluss in einem Pfarrkranz der benachbarten Pfarrfamilien, und es wird der zweite Sohn, Erich, geboren. Agnes ist glückliche Mutter. Sie wird selbstbewusster und findet wieder Zugang zu ihren ‚Freunden‘, Erscheinungen verstorbener Menschen, die sie zuletzt in ihrer Kindheit erlebte. Schloss Langenburg und die Schlösser in der Umgebung werden ihr zu wertvollen Orten, die ihre Fantasie anregen. 1897 ist ein Jahr mit schweren Gewittern. Auch diese Gewitter werden ihr Anregungen zu ihrem späteren Roman geben. 1899 schreibt sie für ihre Söhne ein Theaterstück und bestellt sich Puppen, um daraus Marionetten herzustellen. Mit 38 Jahren wird Agnes Günther wieder schwanger, diesmal mit einem Mädchen, doch sie verliert das Kind. Die schwere Zeit danach wird dadurch verschlimmert, dass ihr Sohn Erich schwer an Typhus erkrankt und sie beinahe auch ein zweites Kind verloren hätte. Als es ihr wieder besser geht, erzählt sie ihrem Sohn Gerhard die Geschichte der kleinen Prinzessin Lilian – ein Vorläufer ihres Romans.

Doch Agnes bleibt kränklich und fährt im Herbst 1901 zur Kur nach Baveno. Sie hat Fieber und hustet Blut. Es geht ihr nicht besser, und sie reist weiter nach Bordighera. Trotz ihrer Krankheit kann sie sich für die italienische Kunst begeistern. Sie wohnt bei englischen Freunden in der Villa Riposo, die als ‚Villa Riposa‘ in ihrem Roman auftauchen wird. Dort ist sie schwach wie nie, leidet an Blutarmut durch das häufige Blutspucken und fällt in tiefe Ohnmachten. Auch Rosmarie erlebt in Bordighera eine schwere Krise und ist kurz davor, das Leben aufzugeben. Aber für ihre Kinder wird Agnes wieder gesund. Zurück in Langenburg spinnt sie ihre Prinzessinnen-Geschichte weiter: Die Protagonistin heißt jetzt ‚Seelchen‘ und ‚Rosmarie‘. 1903 kommt Gerhard ins Internat Maulbronn, und Agnes vermisst ihren Sohn. Weitere Erlebnisse in der Langenburger Umgebung wird sie in ihren Roman aufnehmen. 1905 übt sie mit Langenburger Bürgern für eine Wohltätigkeitsfeier das selbstgeschriebene, nach historischen Quellen verfasste Stück „Alt Langenburg“ ein. Auch Kostüme, Bühnenbild und Requisiten verantwortet sie. Es folgt ein Stück für die Schillerfeier und im selben Jahr ihr Stück Von der Hexe, die eine Heilige war, das im 17. Jahrhundert spielt und von der Grafentochter Gisela handelt. Die Aufführung der Hexe wird ein Erfolg. Auch der Prinzessinnen-Roman ist in Planung, und Agnes Günther glaubt, mit ihm berühmt zu werden. Sie erlebt eine weitere glückliche Zeit. 1907 ist sie jedoch erneut krank und kann das Haus nicht verlassen. Außerdem beschließt man im Cotta-Verlag, an den Agnes ihr Manuskript der Hexe geschickt hat, es nicht zu drucken. Das trifft sie hart, und sie gibt das Schreiben vorerst auf. Und die Familie zieht von Langenburg nach Marburg, wo sich Rudolf habilitieren möchte.[3]

Gerhard beginnt an der dortigen Universität ein Studium. In Marburg ist Agnes zu Visiten bei anderen Akademikern und ihren Familien verpflichtet, was ihr widerstrebt, und sie verliert den Kontakt zu ihren ‚Freunden‘, weil ihr der Freiraum fehlt. Ihre Krankheit kehrt wieder. Gerhard freundet sich mit dem Theologiestudenten Karl Josef Friedrich an, der ein gern gesehener Gast im Hause Günther wird und bald um die Existenz von Agnes‘ ‚Freunden‘ weiß. Bald schreibt sie eine Weihnachtsgeschichte, die sie veröffentlichen kann. Diese Geschichte Waldweihnacht wird später das erste Kapitel ihres Romans sein. Sie findet auch wieder Zugang zu ihrer übersinnlichen Welt. Auch Gerhard schreibt nun Theaterstücke.

Im August 1909 ermöglicht Pfarrer Betz, ein Freund der Familie aus der Langenburger Zeit, dass Agnes bei ihm in Herrentierbach nahe Langenburg einen Schreiburlaub nehmen kann, um endlich Zeit für ihren Roman zu haben. Während dieser Zeit unternimmt sie oft Spaziergänge in die Umgebung und schreibt fleißig. Dann muss sie nach Marburg zurückkehren und das letzte Drittel des Romans in ihrem betriebsamen Marburger Haus schreiben. Am 27. November 1909 ist die letzte Seite fertig. Die Abschrift für den Salzer-Verlag zehrt an ihren Kräften. Als der Verlag ihr absagt, bereitet sie ein Schreiben an Cotta vor, doch die neu ausgebrochene Tuberkulose durchkreuzt ihren Plan. Sie hält sich in einem Sanatorium in Davos auf, wo man feststellt, dass die Krankheit den Kehlkopf befallen hat. Im Juni 1910 kehrt sie nach Marburg zurück. Dort kann sie nicht einmal mehr spazieren gehen, und ihre Lebensfreude verlässt sie zusehends. Trotzdem macht sie sich wieder an ihren Roman, und sie ahnt, bald sterben zu müssen. An Weihnachten 1910 geht es ihr so schlecht, dass ihr Arzt glaubt, das sei das Ende. Ab da glaubt Agnes, bereits gestorben zu sein, und bekommt nicht mehr alles mit, was um sie herum geschieht. Dennoch schreibt sie weiter Geschichten und Briefe. Im Februar nimmt sie sich das letzte Kapitel des Romans vor und vollendet es. Eine Woche später stirbt sie; ihr Mann Rudolf und ihr Sohn Gerhard sind anwesend.[4]

Ihrem Manuskript wird erst wieder an Weihnachten 1911 Beachtung geschenkt, als Karl Josef Friedrich, Gerhards Freund, Rudolf danach fragt. Er ist es, der die Blätter ordnet und das Ganze liest. Er ist der Meinung, man müsse die Geschichte einem Verlag anbieten. Er überzeugt Gerhard davon, teilt den Text in Abschnitte ein und kürzt ihn. Schließlich bietet er das Manuskript dem Steinkopf-Verlag unter dem Titel Die Heilige und ihr Narr an. Im Dezember 1912 unterschreibt Rudolf den Verlagsvertrag, und im April 1913 erscheint das Werk in zwei Bänden. Agnes Günther wollte es Der Schleier der Gisela nennen.[5]

[1] Vgl. Dorothea Demmel: Die Frau mit den bunten Flügeln. Die Agnes Günther-Biographie. Kiel 2013, S. 11–17.

[2] Vgl. ebd., S. 18–61.

[3] Vgl. ebd., S. 62–301.

[4] Vgl. ebd., S. 302–411.

[5] Vgl. ebd., S. 412–418.

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