Drei Imaginationen von Stefanie Köpf
Imagination 1
Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin und nun Langenburgerin? Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin, nun Langenburgerin, Kaufmannstochter, Pfarrfrau, Mutter zweier Söhne und an Schwindsucht Leidende? Wie schreibt eine dreiundvierzigjährige gebürtige Stuttgarterin, nun Langenburgerin, Kaufmannstochter, Pfarrfrau, Mutter zweier Söhne, an Schwindsucht Leidende und spätere Autorin eines Bestsellers im Jahre 1907? Was schreibt sie ihrer Freundin?
Agnes Günther an Anna Schnizer
Langenburg, ohne Datum?
Liebe Anna?
Hat mich Dein Brief erst vor wenigen Tagen erreicht? Möchte ich Dir für Dein liebes Vertrauen danken, das mir gerade in diesen Monaten so viel bedeutet? Werden mir Deine Ermunterungen noch teurer, wenn ich mich daran erinnere, dass Du Dir in Deinem großen und vollen Haus jeden freien Moment, den Du auf das Beantworten meiner Briefe verwenden kannst, tapfer erstreiten musst? Sage ich Dir tausendmal Danke für Deine Worte, die ich mir immer dann zu Herzen nehme, wenn es laut um mich ist und ich mich nach Einfachheit und Stille sehne?
Hast Du mich nach meiner Gesundheit gefragt und wünschte ich mir, ich könnte Dir berichten, sie sei besser geworden? Müsste ich Dir sagen, wenn ich ehrlich sein wollte, dass die große Schreibezeit, der Drang – bitte lach mich nicht aus, wenn bitte lach mich nicht aus, wenn ich Zwang sage – nicht gerade für Besserung sorgt? Und danke ich trotzdem Gott, dass er mir diese Schreibezeit geschickt hat, die bis jetzt anhält und wohl noch weiter anhalten wird? Stell Dir vor: ein Roman? Ein Roman, für den ich meine häuslichen Arbeiten vernachlässige und sogar den Garten? Sah ich gestern in der Früh, dass die Gurken und die Kohlköpfe schlapp und traurig im Beet standen? Wenn sie kein Wasser bekommen, werde ich ihnen das verübeln können? Und das wegen eines Romans, wegen einer Geschichte? Habe ich Glück, dass Rudolf meine Neigung zum Schreiben mit Verständnis und mit Wohlwollen sieht und mich nicht fragt, wieso ich allzu oft den Schreibtisch dem Garten und den Wiesen und Feldern vorziehe – und wieso die Gurken und die Kohlköpfe so aussehen, wie sie aussehen?
Frage ich mich in stillen Nächten, ob dieser Roman meine Zerstreutheit wert ist? Ob er gut ist? Sticht mich dann der Stachel, der böse Verdacht, meine Geschichte habe keine eigene Art, sei nichts Selbständiges? Sie sei zu sehr ein Märchen, ein langes Märchen? Aber soll sie nicht gerade das sein? Wenn mich derlei Gedanken plagen, sage ich mir dann: Urteile erst, wenn die Geschichte fertig ist? Ist das Halbe noch kein Ganzes? Tut man ihm Unrecht, wenn man es als ein Ganzes behandelt? Geht man denn mit seinen Kindern um, als seien sie Erwachsene? Nein, wir geben doch auch unseren Kindern Zeit, zu wachsen und zu reifen – Rede ich dann so mit mir? Will ich so gerecht, wie ich gegen meine Söhne sein will, auch gegen meine Geschichte sein?
Werde ich zum Schluss versuchen, Deine schwierigste Frage zu beantworten? Ob ich meinen Roman veröffentlichen werde? Kennst Du meine Zweifel? Wünschte ich, ich könnte mir so sicher sein wie mancher Mann, der, überzeugt von seinem Können und Geschick, sein Werk dutzenden Menschen anbietet, die etwas von Literatur verstehen, bis sich ein Verleger findet, der sich bereiterklärt, es zu drucken? Aber wenn das nicht meine Art ist? Also werde ich Dich auf eine eindeutige Antwort warten lassen müssen, bis ich den Roman fertig habe? Werde ich dann entscheiden, was mit ihm geschehen soll?
Wird mir meine Geschichte bis dahin eine jugendliche Nachbarin sein, die ihr Wesen erst noch ausbilden, die reifen muss? Und wenn sie erwachsen sein wird, werde ich sie dann fragen, ob sie hinaus in die Welt möchte?
Danke ich Dir, dass Du an meinen Gedanken teilnimmst, und hoffe ich auf eine baldige Antwort? Vielleicht möchtest Du mir sagen, ob Deine Else immer noch so gerne wie im letzten Sommer mit Bleistift und Zeichenpapier im Garten sitzt?
Mit Wünschen und Grüßen?
Deine Agnes?
Agnes Günther in Langenburg (Jagst) an Anna Schnizer, geb. Mohr, Pfarrfrau in Kirchberg (Jagst) – Wortlaut der Abschrift (Die durchgestrichenen Stellen sind im Original mit blauem Stift durchgestrichen; die (auch hier) blauen Wörter sind mit demselben blauen Stift nachgetragen.)
Langenburg 1.März
Liebe Anna!
Vielen Dank für Deinen lieben Brief, der mich sehr gefreut hat, ich fühlte ihn kommen. Ich bin nun wieder auf, zum Teil wenigstens, leider kann ich noch nichts tun, sehr schmerzlich, wenn so viel Geschäft Hurrah schreit, wie Deine Awa sagen würde. Sehnt sie sich auch nach ihrem Garten? Ich auch u. wie! Heute fand ich ein Gänseblümchen, das hat mir doch gelächelt!
Dass Du meinen Erich so beschenken willst, hat mich sehr erfreut. Bis je jetzt erfüllt ihn jedes Confirmationsgeschenk mit gelindem Grausen. Neulich meint er, wenn ich nicht in die christl. Kirche eintreten will, muss ich auch nicht confirmiert werden. Die Zukunft erscheint ihm rabenschwarz, er will nicht fort, u. er möchte im Kindheitszustand verharren, weil man da noch spielen darf. Über das schöne Gerhardbuch von Schäfer würde er sich sehr freuen, viel mehr als über etwas anderes. Neulich sahen wir einige Illustrationen daraus, darunter das sehr schöne der Matrone, die die Bibel liest u. über deren Haupt eine Krone aus Herzen schwebt, mit Kinderstrümpflein, Laiblein u. Häublein behangen. Die Frau gefiel mir in ihrer schönen mütterlichen Ruhe sehr gut, u. ich meinte nur „Schade wir modernen Frauen bringen diesen schönen Typus nicht mehr heraus, wenn uns auch keine verspätete Jugendlichkeit mehr anklebt, wir werden der Frau da nie ähnlich werden. Es fehlt uns glaub ich wohl die Würde. Rudolf meinte, von allen jüngeren Frauen die ich kenne hat allein Deine Freundin Anna Anwartschaft auf diese Frauenkrone, sie allein wird einmal das Ideal da verkörpern. Ich meinte, sie hat es auch gut, sie ist die Schönste von uns. Aber der Gemahl weiss es besser: „nein die mütterlichste von Euch allen.“ Siehst Du da hast Duś – Wir andern geben nur so ältere junge Frauen, Du aber! Hoffentlich bildest Du Dir etwas darauf ein! Meines Gerhards Militairpapiere hab ich versandt, auch ein Lebensabschnitt! Guter Bub ist er ja immer noch! Deine Awa wird auch einmal für ihren Heinrich bangen. – Nächsten Sonntag darf ich zum erstenmal seit Weihnachten wieder in die Kirche, ich freue mich sehr. Sonst war meine Krankheit stellenweise sehr unterhaltend, auch gewiss reich. Ich genire mich immer ein wenig, wenn ich bedauert werde und komme mir wie Vorspiegelung falscher Tatsachen vor. Was hab ich // nicht alles gelesen und zusammen spintisiert. Nach meinen Flickkörben hatte ich kein Heimweh! Vorher ehe ich mich ins Bett legen konnte, habe ich mich sehr quälen müssen, nachher wars dann der reine Genuss. Nun krazt das Leben noch ein wenig. Dir nochmals vielen Dank und die herzl. Grüsse von meinem 1. Mann und Erich und besonders
von Deiner treuen Agnes.
Deinem 1. Mann u. Anna
Awa herzl. Grüsse.
Awa = die Großmutter Marie Mohr geb. Osterich.
Für die Richtigkeit
Pfarrer i R. Mohr de Sylva
Imagination 2
In ihrem Brief schreibt Agnes Günther von einer Illustration Rudolf Schäfers in einem Buch mit den Liedern Paul Gerhardts: „Neulich sahen wir einige Illustrationen […], darunter das sehr schöne der Matrone, die die Bibel liest u. über deren Haupt eine Krone aus Herzen schwebt, mit Kinderstrümpflein, Laiblein u. Häublein behangen. Die Frau gefiel mir in ihrer schönen mütterlichen Ruhe sehr gut, u. ich meinte nur ‚Schade wir modernen Frauen bringen diesen schönen Typus nicht mehr heraus, wenn uns auch keine verspätete Jugendlichkeit mehr anklebt, wir werden der Frau da nie ähnlich werden. Es fehlt uns glaub ich wohl die Würde. Rudolf meinte, von allen jüngeren Frauen die ich kenne hat allein Deine Freundin Anna Anwartschaft auf diese Frauenkrone, sie allein wird einmal das Ideal da verkörpern. Ich meinte, sie hat es auch gut, sie ist die Schönste von uns. Aber der Gemahl weiss es besser: „nein die mütterlichste von Euch allen.‘ Siehst Du da hast Du‘s- Wir andern geben nur so ältere junge Frauen, Du aber! Hoffentlich bildest Du Dir etwas darauf ein!“
Wie sieht eine Frau aus, die eine schöne, mütterliche Ruhe ausstrahlt?
Imagination 3
Was wäre, wenn Rosmarie, die Hauptfigur aus „Die Heilige und ihr Narr“, Günthers Erfolgsroman, diese Illustration sähe?
Fanfiction: Mutterbild
Die Römerwiese blühte. Der Tau war gerade erst verdunstet, und die Sonnenstrahlen erfassten immer mehr der Gräser, Kräuter und kleinen Insekten, die man zwischen ihnen springen sah. Auf der linken Seite fasste ein Wald die Wiese ein, und wenn man den Blick nach rechts wandte, stieg das Gelände zu einem Hügel an. Über dessen Kuppe begann der klare Himmel. Weiße Blumen standen in Kissen zusammen, die auf die Entfernung wie Stücke zarten Stoffs wirkten; dazwischen hatte sich roter Mohn gemengt.
Rosmarie saß im Schatten ihres Gartenhauses, ihren Sohn im Arm. Das Haus stand in der Kühle des Waldes, doch von ihrem Platz aus konnte sie auf die sonnige Wiese sehen. Einzelne Strahlen brachen durch das Blätterdach und ließen Lichtflecken auf ihrem Haar, ihrem weißen Batistkleid und dem Gesicht ihres Sohnes leuchten. Sie hielt ihm die Hand hin, und er griff nach ihrem Zeigefinger, befühlte ihn eingehend und lachte. Nach einer Weile veränderte sich sein Ausdruck, und er wurde schläfrig. Sachte stand Rosmarie auf und trug ihn ins Haus. Sie strich ihm über den Kopf und legte ihn in sein geschnitztes und bemaltes Kinderbett. Harro, ihr Mann, hatte es angefertigt. Harro war an diesem Morgen sehr früh nach Thorstein in sein Atelier gefahren. Rosmarie hatte mit ihrem Kind lieber den Sommertag in der Natur genießen wollen; wozu hatte man denn ein Gartenhaus in der schönsten Ecke des Waldes?
Wie es ihre Gewohnheit war, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und erfreute sich an den schönen Dingen, die sie selbst und vor allem Harro für ihren gemeinsamen Rückzugsort angefertigt hatten. Da blieb ihr Blick an einem Buch hängen, das auf dem Tisch lag und das ihr unbekannt war. Es war in schlichtes, braunes Leinen gebunden und hatte gestern dort noch nicht gelegen. Sie nahm es in die Hand, strich über den rauen Stoff des Einbands und betrachtete es von allen Seiten. Dann schlug sie es in der Mitte auf und blätterte ein wenig darin. Es war ein Buch mit vielen Illustrationen, fast schon ein Bilderbuch. Rosmarie nahm an, dass Harro es wegen der Bilder gekauft haben mochte. Er bekam seine Einfälle oft von fremden Kunstwerken, und so hatte er sich wohl eine weitere Inspirationsquelle zulegen wollen.
Eine der Illustrationen zog ihre Aufmerksamkeit an. Es war eine alte Frau, die die Bibel las. Mit der rechten Hand stützte sie ihren Kopf; die linke lag auf den Seiten des Buches. Sie trug ein weißes Kopftuch und einen Pelzüberwurf und sah so aus, als habe sie gerade von der Lektüre aufgeblickt und als denke sie über das Gelesene nach. Rosmarie strich mit den Fingern über das weiche Papier und fuhr schließlich die Konturen des Bildes nach. Da hatte Harro etwas Schönes ausgesucht. Die Frau auf dem Bild strahlte eine mütterliche Ruhe aus, die Rosmarie bald auch in sich selbst spürte.
Rosmarie fiel keine Frau ein, die sie kannte, die der Dargestellten ähnlich wäre. Sie dachte an ihre eigene Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, weil sie bei ihrer Geburt gestorben war. Ob ihre Mutter nun so aussehen würde, wenn sie ihr damals nicht den Tod gebracht hätte? Rosmarie tat einen tiefen Atemzug. Vermutlich nicht. Diesen ruhigen, zur geistigen Versenkung fähigen, matronenhaften Typus brachten die modernen Frauen nicht mehr hervor. Was fehlte ihnen denn? Die Ruhe? Die mütterliche Würde etwa?
Ihre Stiefmutter Charlotte war das Gegenteil der dargestellten Frau. So sehr sie sich von dieser ruhigen Leserin angezogen fühlte, so sehr – oder noch mehr – war sie von Charlotte abgestoßen. Wir sind zu grundverschieden, dachte Rosmarie. Charlotte fühlte sich auf Schloss Brauneck auch nach all der Zeit nicht wohl, auf dem alten Bau mit seinen alten Gängen und den Gewittern, die im Sommer gegen die Mauern rollten. Sie raste lieber mit ihrem Auto über die Straßen, trug ihr rotes Kostüm, übte mit dem Schießgewehr und war voll Abenteuer- und Feierlust – und voll Abneigung gegen ihre Stieftochter. Diese Abneigung war über die Jahre gewachsen. Rosmarie fühlte nur selten einen leichten Groll gegen Charlotte, meistens war sie ihretwegen traurig. Als Charlotte vor wenigen Jahren schwanger gewesen war und das Kind verloren hatte, da hatte sie Rosmarie für die Fehlgeburt verantwortlich gemacht. Aber Rosmarie ahnte, dass Charlotte eigentlich froh war, kein Kind bekommen zu haben. Es hätte die Freiheitsliebende nur an das alte Spukschloss Brauneck gefesselt. Charlotte würde der Frau auf dem Bild nie ähneln; sie war auf dem Weg, eine ältere junge Frau zu werden, der diese eigentümliche Ruhe vollkommen fehlte.
Und sie selbst? Sah sie in der Illustration ihr Vorbild? Wollte sie einmal so werden? Wenn sie nicht wie Charlotte werden wollte, hieß das dann, dass sie wie diese alte Frau werden wollte? Oder gab es für sie einen dritten Weg? Noch war sie jung. Sie konnte sich zwar stundenlang auf nebensächliche Dinge konzentrieren, sich in sie versenken, weshalb viele Menschen sie seltsam fanden. Aber zu dieser mütterlichen Ruhe fehlte viel. Rosmarie blickte von Harros Buch auf und sah zu ihrem Sohn hinüber, der mittlerweile tief und friedlich schlief. Sie legte das Buch sachte zurück auf den Tisch, ging vors Haus und schaute über die Wiese. Dort flatterten Schmetterlinge mit bunten Flügeln. Sie straffte die Schultern und trat in die Sonne.
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