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Literatur im Raum: Frauen

Über diesen Projektraum

Frauen sind in der Literatur nahezu in allen Bereichen unterrepräsentiert. Zur Rechtfertigung werden immer wieder Vorurteile bemüht: Frauen hätten weniger geschrieben, Frauen kreisten nur um Frauen, Frauen seien die schlechteren Autorinnen … Dabei gibt es eine Vielzahl großartiger Autorinnen, nur sind sie allesamt kaum durch Werkausgaben und Archive überliefert. Denn Männer haben Geschichte geschrieben und wiederum Männern die maßgeblichen Rollen zugewiesen. „Der Begriff Archiv, erklärt uns Jacques Derrida, kommt vom altgriechischen ἀρχεῖον: arkheion, ‚das Haus des Herrschenden'“ (Carmen Maria Machado, „Archiv der Träume“, 2021).

Wir wechseln in diesem Projektraum die Perspektiven und suchen nach realen Objekten in den Nachlässen von Schriftstellerinnen, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach gesammelt werden, um sukzessive einen imaginären öffentlichen Raum daraus zu bauen. Welche Exponate kommen an diesem Ort zusammen, welche (literarischen oder wissenschaftlichen) Kommentare begleiten sie? In welchem Verhältnis stehen diese Dinge zu den Wohnorten und Wohnräumen, aber auch zu den literarischen Stimmen und ästhetischen Praktiken ihrer Urheberinnen und Besitzerinnen? Was ist handfest und begreifbar überliefert, was nur als Spuren im Sand? X Wie lassen sich wissenschaftliche Archivrecherche, künstlerischer Forschung und literarisches Schreiben verbinden? Was kann – gerade im Umgang mit historischen Leerstellen – die Wissenschaft, was die Poesie?

Die Idee zu diesem Projektraum geht auf eine Initiative von Carolin Callies und Nancy Hünger zurück („Kein Ort. Nirgends“) X und wurde gemeinsam mit diesen von der Marbacher Stabsstelle für Literatur im öffentlichen Raum 2022/23 im Rahmen von Forschungspraxisseminaren an den Universitäten Stuttgart (Institut für Literaturwissenschaft, Neuere deutsche Literatur) und Tübingen (Studio Literatur und Theater) so wie in Kooperation mit der Forschungsgruppe #breiterkanon weiterentwickelt. Ein Workshop mit der Graduate School Practices of Literature zu Objektpaaren und „The Telepathy of Archives“ hat sich im Wintersemester 2023/24 angeschlossen, weitere Projekte mit den Universitäten Bern, Stuttgart und Tübingen sind in Planung: Das Projekt zieht langsam und beharrlich Kreise, verstrickt sich, macht neue Maschen auf, in die andere schlüpfen können.

Ein Ort, nirgends – Exposé von Carolin Callies und Nancy Hünger

Gerne würden wir die Repräsentation von Dichterinnen und Schriftstellerinnen in Erinnerungsorten sichtbarer machen. Die Entwicklung der ersten personalen Gedenkstätte geht auf Johann Wolfgang von Goethe zurück, der das Werk Friedrich Schillers bewahren und zugleich in lebenspraktischen Zusammenhängen sichtbar und zugänglich machen wollte. Goethe wusste um die Symbolkraft solcher Orte. 

Aleida Assmann konturiert sie wie folgt: „Orte, die bestimmte Empfindungen erzeugen, Erinnerungen festigen und auch beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, überdauert.“ 

Was bedeutet es also, so fragen wir, wenn es für Schriftstellerinnen kaum nennenswerte Erinnerungsorte gibt und somit Ihr Platz im Erinnerungssystem Literaturgeschichte nach wie vor vakant bleibt. 

Ein grober Überschlag ergibt: Ca. 700 Orte erinnern in Deutschland mehr oder minder an Dichter, im Vergleich dazu erinnern nur ca. 40 Orte an Dichterinnen. Selbst von der Nobelpreisträgerin Nelly Sachs gibt es lediglich eine Gedenktafel in Berlin Schöneberg. Was also ist mit Schriftstellerinnen wie Ilse Aichinger, Emmy Ball-Hennings, Hilde Domin, Marlene Haushofer, Marie Luise Kaschnitz, Ruth Klüger, Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, Helga M. Novak, Christa Reinig oder Unica Zürn? 

Heute wissen wir längst, dass diese außergewöhnlichen Orte auch das Erinnerungssystem der Literaturgeschichte stabilisieren und eine wichtige Funktion für das kulturelle Gedächtnis innehaben: „Dichterhäuser sind Schatzhäuser literarisch-kultureller Überlieferung, die in der Architektur, in Objekten und Büchern materialisiert ist und im Erinnerungshandeln aktualisiert wird.“ (Burkhard Dücker)

In einer Ausstellung zu diesem Thema würden wir daher gerne dreierlei zeigen: mittels Alltagsgegenständen aus den Autorinnen-Nachlässen das Leben zwischen Schreiben, Arbeiten und Familie; mittels Handschriften Lebensberichte aus erster Hand; und mit Fotomaterialien die Wohnstätten, durch die Lebensgewohnheiten aufgezeigt werden können. Im zweiten Schritt wollen wir gegenwärtige Autor*innen bitten, über diese Schriftstellerinnen zu schreiben, über das Verhältnis und die Interaktion von Wohnorten, Räumlichkeiten, Dinglichkeit und ästhetischer Praxis. 

Darüberhinaus haben wir bereits erste Ideen für eine digitale Verknüpfung zwischen Ausstellung und Wohnorten der Autorinnen gesammelt, eine Art Spurensuche, die die Ausstellung sinnvoll erweitern könnte und Partizipation erfordert.

 

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2021/22 haben Carolin Callies und Nancy Hünger auf Einladung des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel im Deutschen Literaturarchiv recherchiert und ihr Projekt im Marbacher Programmheft 2/2021 vorgestellt (PDF lesen).

 

Lee Mandelo: „the history of women writers—as friends, as colleagues, as individuals, as a group—is written on sand“ ( Reading Joanna Russ: How to Suppress Women’s Writing, 2011)

Team

Projektleitung: Carolin Callies, Heike Gfrereis und Nancy Hünger.

 

Text- und Bildbeiträge Archivobjekte: Heike Bolinth, Samantha Cancilleri, Kimberley Holzmann, Lisa Hufschmidt, Linda Jentzsch, Lisa Kasprik, Stefanie Köpf, Julia Mayer, Olga Pasquet, Dorinne Schnabel, Julian Seeger und Sarah Trost. Fotos: DLA Marbach sowie Bildausschnitte der Startseite: Luise Duttenhofer (Therese Huber), Bettina Flitner (Irmtraud Morgner), Art Resource, New York (Hannah Arendt Bluecher Literary Trust) und Tschechow Museum Badenweiler (Gabriele Wohmann).

 

Textbeiträge „like / have discovered / read recently“: Jasmin Dahn, Elena Fabian, Mia Frey, Marcella Git, Amy-Leony Koebcke, Antonia Kurz, Laura Alina Magg, Mercedes Albers-Pantin und Maja Steinestel unter der Leitung von Isabel-María Osuna-Montilla und Charoula Fotiadouan mit Sissy Doutsiou als Gastmoderatorin.

 

Bildinszenierungen und Hörspiele „neu gehört“: Danijela Dahlke, Maximilian Dietrich, Helena Kablinovic, Milena Kuhn, Felix Lier, Karina Macicas, Valeriya Reichenecker, Eva-Lotte Reimer, Achim Schmid, Pierre Simporé, Moussa Traore, Raphael Zöller; Regie: Axel Brauch; Kostüm: Gesine Mahr; Schnitt: Raphael Zöller; Redaktion: Annette Bühler-Dietrich, Achim Schmid. Leitung: Annette Bühler-Dietrich.

 

Kontakt/Redaktion: Heike Gfrereis

 

Heike Gfrereis

heike.gfrereis@dla-marbach.de