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Silvia Bovenschens Brillen

 

Raumtext von Lisa Kasprik

Brillen und Diktiergerät oder über die Augen und die Stimme einer Autorin, deren Promotion „Die imaginierte Weiblichkeit“ (1979) zu den kanonischen Texten des Feminismus gehört.

Text 1

 

Ein lyrischer Versuch zu Silvia Bovenschens Brillen

 

Was haben deine Augen gesehen?

So frage ich beim Anblick deiner Brille

Die Antwort ist nur nachdenkliche Stille

Doch Silvia, ich möchte dich verstehen.

So stelle ich mir in Gedanken vor

Ich hätte einen Tag in deiner Haut gesteckt.

Zuerst hätte mich meine Sarah aufgeweckt

Die ich trotz ihres Todes nicht verlor.

Das Laufen wäre mir schon schwergefallen

Von Hand zu Schreiben kaum noch umsetzbar

Von außen eingetrübt, doch meine Sinne klar

Kooperativ zwischen den Wartungsintervallen.

Mit Nähe und Distanz zugleich betrachten

Im Alter einen jugendlichen Geist bewahren

Nicht resigniert nach vielen Leidensjahren

Und doch gezeichnet von geführten Schlachten

Hätte das Glück das Unglück überwogen?

Hätte ich lieber nicht gesehen, was ich sah?

Niemals, denn meine Sarah war ja da

Ist mehr als einmal mit ins Feld gezogen

Ich hätt‘ im Spiegel eine kluge, starke Frau erkannt

Im Sitzen zwar und mit verrutschter Lesebrille

Doch in den Augen unbrechbarer Wille

Humor und Hirn, Herz und Verstand.

Text 2

 

Brief an S.B.

Liebe Silvia!

Dein Diktiergerät, ein altes Sony M-527V, robustes Design, Funktion vor Ästhetik, anders als bei dir, wo beides gleich gewichtet wurde, liegt hier vor mir und ich spiele mit Assoziationen und will sie mit dir teilen, dir und mir Fragen stellen.

Dieses zunächst unscheinbar wirkende Hilfsmittel einer Intellektuellen, einer “gelehrten Frau”, ganz, wie du sie in der imaginierten Weiblichkeit verhandelst, scheint Geheimnisse in sich zu bergen, die über die bloße Materie schwarzen Kunststoffs und technischen Innenlebens hinausgehen.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Schwestern in Kindheitstagen, es müssen die frühen 1990er Jahre gewesen sein, selbst Tonaufnahmen angefertigt habe. Nicht mit einem professionellen Diktiergerät, sondern mit einem leuchtend roten Kassettenrekorder mit großen gelben Tasten für Kinder, der zu unserer großen Freude auch als Aufnahmegerät funktionierte. Eigentlich gehörte er der Ältesten von uns, was wir Jüngeren auch respektierten – wenn sie anwesend war. Wir klebten jeweils einen Streifen Klebefilm über die Öffnungen am unteren Ende der Kassetten, über die das Abspielgerät das darin laufende Magnetband ablas. Leere Tonträger zu kaufen kam, so unser wenig technikaffiner und ostpreußisch-sparsamer Vater, überhaupt nicht in Frage. Diverse professionelle Aufnahmen, darunter einige von Grimms Märchen, wurden also der Begeisterung für diese Technik geopfert – doch mit einem Mehrwert, den ich heute hochschätze. So hatten wir bereits als Kinder eine Möglichkeit, die anderen Mädchen aufgrund ihres mangelnden sozio-ökonomischen Kapitals verwehrt blieb oder bleibt. Die eigene Stimme mit den Ohren der anderen zu hören. Einen Perspektivwechsel einzunehmen und das Gesprochene abermals zu reflektieren, anzupassen, zu verändern. Begreifen, dass wir eine eigene Stimme haben, ein Instrument, um unser Denken und Fühlen mit der Außenwelt zu teilen. Das Ausprobieren unterschiedlicher Rollen und Stimmlagen. Die Stimme erheben. Das Wahrnehmen der eigenen “Laut-Stärke”. Wie du selbst über dich schreibst, wurden dir seitens deines Elternhauses keine Steine in den Weg gelegt, als du eine akademische Laufbahn einschlugst. Dennoch war das gesellschaftliche Bewusstsein um dich, die du exakt 40 Jahre vor mir zu Welt kamst, ein anderes, als ich es erlebt habe. Je mehr ich mich mit deinem Leben und Schreiben auseinandersetze, desto komplexer erscheinen mir beide und mit umso mehr Faszination bewundere ich deine Kraft, deinen Mut, deine Facetten – nicht zuletzt die Tatsache, dass du dich nicht für den Intellekt und gegen deine ganz persönliche Weiblichkeit entschieden hast. Vielmehr gelang es dir, beides zu vereinen. Klarzumachen, dass es sich nicht um Widersprüche handelt. Und dich anhaltend für die Gleichberechtigung von Frauen stark zu machen – ohne Stimme und ein Bewusstsein für ihren Einsatz, auch als Kampfmittel, wäre dies um einiges schwieriger und anspruchsvoller gewesen, als es ohnehin war.

Als junge Frau im innerlich wie äußerlich zerrissenen Nachkriegsdeutschland, zumal nicht der heterosexuellen Norm entsprechend, auf die Barrikaden zu gehen, den Männern aufs Maul zu schauen und sich nicht weg zu ducken erforderte sicher viel Mut. Wir Frauen werden, auch heute noch vielfach, dahingehend sozialisiert, Männern eher gefallen zu wollen, oder ihnen zumindest nicht zu widersprechen, ohne soziale Ausgrenzung erdulden zu müssen. Vielleicht hast du dich irgendwann im Leben nach Mutterschaft gesehnt, ohne die damit einhergehenden Zwänge und Einschränkungen auszublenden oder als für dich hinnehmbar zu erachten? Mir als chronisch kranker Frau, die sich für Geschlechterverhältnisse und Rollenklischees interessiert sowie im Kampf gegen Ableismus und Misogynie zumindest Fußsoldatin ist, geht es manchmal so. Glücklicherweise nimmt uns allen die Natur diese Entscheidung irgendwann ab, doch es ist etwas anderes, wenn die eigene Fortpflanzung von vornherein mit zusätzlichen Fragezeichen versehen ist, aus welchen Gründen

auch immer. Vielleicht richtet sich gerade dann der Schöpfungswille darauf, etwas anderes zu hinterlassen als die eigenen Gene und das, was einem Kind hätte beigebracht und mitgegeben werden können, im übertragenen Sinne den Kindern dieser Gesellschaft als Erbe zu hinterlassen?

Zurück zu deinem Sony. Weit entfernt von Kinderspielen war natürlich dein Gebrauch dieses Gerätes. Und doch stelle ich mir beim Klang deiner Stimme in Interviews lebhaft vor, wie spielerisch und unbefangen dein Umgang mit dem Festhalten der eigenen Stimme gewesen sein mag. Zu gern wüsste ich, wie deine eigene Stimme für dich selbst, zugleich über die Knochen – als auch die Luftleitung wahrgenommen, geklungen hat und wie sich dieser Unterschied zu deinen Aufnahmen für dich anfühlte. Hast du dabei etwas entdeckt, das dir neu war? Wie hast du es wohl bewertet? Hat sich dein Selbstbild dadurch verändert? Sich mit der eigenen Stimme anzufreunden, erscheint mir, als lerne man sich selbst nochmal neu kennen. Weißt du, was ich meine? Deine Stimme, die ich aus diversen Aufnahmen von Interviews kenne und sofort mit deinem Diktiergerät verbinde, das ich mir als deinen ständigen Begleiter denke, strahlt für mich sowohl Kraft als auch Ruhe, sowohl Dynamik als auch Statik aus. Nicht makellos, aber auch gar nicht darauf bedacht, es zu sein. Verhältnismäßig tief, aber dennoch weich. Klar in der Artikulation und der Modulation. Ein wenig kehlig vielleicht, wobei ich mir dich sofort mit einer Zigarette in der Hand vorstelle, eine deiner extravaganten Brillen auf der Nase, mit nachdenklichem Lächeln und mit klarem, beständigem Blick. Hast du gewusst, dass die ersten Geräte für Tonaufnahme bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden? Das Bedürfnis, die eigene und andere Stimmen festzuhalten, ist offenbar etwas genuin Menschliches. So wie die Handschrift in Denker*innen-Notizen einen Eindruck vom Menschen vermittelt, der sie tätigt, transportiert auch und vielmehr die Stimme einen Teil der Persönlichkeit, erinnert uns mit ihrem Timbre zuweilen an vertraute, ähnlich klingende Stimmen – in meinem Fall die meiner Grundschullehrerin, einer resoluten Dame, die allerdings deutlich älter klang als du, die du dir bis zuletzt einen jugendlichen Funken auch stimmlich erhalten hast – wie ich dank der Möglichkeit, digital Videos deiner Interviews abzurufen, wahrnehme. Dennoch habt, besser: hattet ihr auch im stimmlichen Ausdruck etwas gemeinsam, das ich zugleich bewundere und anstrebe – Standhaftigkeit, Überzeugung, Wertschätzung für das eigene kritische Denken und das anderer. Bei dir war das Aufzeichnen deiner Gedanken ja auch praktisch bedingt – mit einer progredienten Nervenerkrankung ist das Anfertigen schriftlicher Notizen häufig problematisch oder unmöglich. Aus einer Not heraus zu improvisieren und nicht aufzugeben scheint mir eine grundlegende Eigenschaft deiner Person gewesen zu sein.

Kein Entweder – Oder. Wir sind immer nur unendlich mal Und. Nicht anpassungsfähig oder widerständig, du warst beides zugleich. Wie Wasser hast du dir stets einen Weg gesucht und dabei Umwege in Kauf genommen, ohne daran zu zerbrechen und nicht ohne tiefe Eindrücke zu hinterlassen. Jemand, der dich persönlich kannte, wüsste vermutlich, ob meine Assoziationen zutreffen. Doch für das Befragen deiner Zeitgenossen fehlt mir momentan leider das zeitliche Kapital, sodass ich mich postum direkt an dich wende. Meine Fragen und Überlegungen werden durch dich unbeantwortet bleiben und doch hoffe ich, dass das noch fortzusetzende Studium deiner Texte mir noch mehr Hinweise liefert. Als Bereicherung empfinde ich die Bekanntschaft mit dir und deinem Werk und Wirken bereits heute. Vielfach vermisse ich in neueren feministischen Diskursen die kritische Selbstreflexion und habe den Eindruck, die Disputantinnen kippten schnell in eine reaktionäre Haltung hinein, die sie auf Seiten der Gegner, nicht aber bei sich selbst zu kritisieren vermögen. Sowohl aus deinem erfolgreichen Werdegang als Intellektuelle als auch aus deinen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Vorurteilen und dem anhaltenden Einsatz gegen eben jene und für die Anerkennung primär der eigenen Denkleistung und deine Reflexionen über die Kontexte von Weiblichkeit und Gelehrsamkeit im Angesicht sich perpetuierender patriarchaler

Strukturen kann und will ich lernen. Auch und weil ich leider ungewollt heteronormativ geprägt bin und immer wieder Denkstrukturen bei mir selbst identifiziere, die ich ablegen möchte.

Dein Diktiergerät, dessen Betrachtung mich zum Schreiben dieser Zeilen an dich bewogen hat, ist ein auf den ersten Blick simpel erscheinendes Objekt. Für mich aber ist es zum Symbol deines Lebenswerkes geworden und weist zahlreiche weitere, semiologische Ebenen auf, die es zu untersuchen gälte. Du gehst ein in die ehrenvolle Liga intellektueller Frauen des 20. und 21. Jahrhunderts in Deutschland, die sich zugleich trotz und wegen aller ihnen sich bietenden Widerstände die (Selbst-)Wahrnehmung intellektueller Frauen bestärkend beeinflusst hat.

Es grüßt dich und dankt dir aus der Welt der lebenden und schreibenden Frauen, L.K.

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