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Gabriele Wohmanns Audiokassette

 

Das eingefangene Wort von Heike Bolinth

 

Sätze bestehen aus Wörtern, diese wiederum aus Buchstaben und wenn aus den einzigartigen Kombinationen dieser Elemente ein Text zu Papier gebracht wird, dann stehen die gedruckten Lettern stellvertretend für momentabhängige und doch meistens bis zur Perfektion korrigierte Gedankengänge. Die Komplexität erhöht sich, sobald der geschriebene Text in ein auditives Medium übertragen wird, denn dann steht hinter dem einzelnen Buchstaben nicht mehr bloß das maschinengeschriebene typografische Element oder der handschriftliche Schnörkel, sondern die Schallwelle, die Frequenz, der Laut, der in den Raum gesendet wird.

Das hörbare Wort ist, im Vergleich zum geschriebenen, einer ungleich höheren Flüchtigkeit ausgesetzt, sofern es nicht aufgenommen wird. Einmal ausgesprochen, kann es nicht mehr zurückgenommen, aber auch nicht wiederhergestellt werden. Es ist dem Moment ausgesetzt und gleichermaßen von diesem abhängig. In seiner Verwendung und Betonung ist das Wort kontextgebunden, aber gleichzeitig frei fluktuierend zwischen rezeptionsspezifischen Konnotationen und Assoziationen.

Ein auditives Medium bietet im Vergleich zum schriftlichen vollkommen andere Dimensionen und fordert damit auch andere Herangehensweisen. Das Milieu, in dem sich Wörter kultivieren, wird um die Welt der Töne erweitert. Das geäußerte Wort wird eingefangen und konserviert – die Vergänglichkeit des Moments wird ausgehebelt, denn dieser kann nun immer wieder zurückgeholt werden.

Mit der Möglichkeit, sprachliche Äußerungen in elektromagnetische Ewigkeit zu transferieren, sind Audiokassetten heutzutage wichtige Zeitzeugen für die Kultur und den Alltag vergangener Tage. Gleichzeitig ist jede Kassette für sich genommen eine kleine Wundertüte, die fast nie nur das enthält, was die Beschriftung auf ihrer Hülle glauben lässt. Das ist es, was die Faszination für dieses mittlerweile antiquierte Medium ausmacht und das ist es auch, was meine Beschäftigung mit der sich auf einer Kassette befindenden Lesung von Gabriele Wohmanns Roman „Frühherbst in Badenweiler“ so spannend gemacht hat.

Die Überraschung, das Staunen, aber auch das Nachdenken über das Gehörte lassen Anakoluthe im Kopf entstehen. Gedankengänge fangen an, brechen ab und setzen sich aus zwei angeschnittenen Enden wieder neu zusammen. So linear die Wortfolge innerhalb eines Satzes auch ist, so diffus gestalten sich die Überlegungen dazu. Obwohl mit der Audiokassette die Möglichkeit gegeben ist, Worte einzufangen, können die Mutmaßungen über deren Aussage dennoch frei fliegen. Die Audiokassette wird zum Resonanzraum für Ideen und Vorstellungen.

 

Text 1

 

Die hörbare Autorin 

 

Das Werk der Autorin wurde auf einem heutzutage antiquierten Tonträger und Gabriele Wohmann selbst in das Radioprogramm aufgenommen.
Der Romantitel – gleichzeitig der Titel der Audiokassette – spielt wohl durch die Wahl eines rural anmutenden Ortes mit klischeebehafteter Ländlichkeit und auf die wechselnde Jahreszeit in einer kleinen und beschaulichen Gemeinde an.
Die Worte der Autorin fallen gemeinsam mit den letzten scharlachroten Geranienblüten in weißen Hängekästen, die sich von dem alternden Sommer verabschieden.
Gabriele Wohmann legt Zeit und Raum genau fest und den Grundstein für die Stimmung, die durch den Titel evoziert werden soll, noch bevor man die erste Seite aufgeschlagen oder das erste Wort gehört hat.
Mit dem auf der Kassette aufgenommenen Auftritt bei der für den Deutschlandfunk abgehaltenen Lesung stellte die Autorin sich und ihr Werk vor und alle Zuhörenden wie bei einer Leseprobe fest, ob der Roman sie interessieren könnte.
Die Umlaufbahn des Orbits an gesprochenen Worten zieht größere Kreise durch die Reichweite, die der Rundfunk generieren kann und die interessierten Zuhörenden in den Bann der Geschichte.
Mit dem Vorlesen überträgt die Autorin das geschriebene Wort in die gesprochene Performance und dem Sender das Recht zum Ausstrahlen der Lesung.
Fraglich ist aber, ob der Sender der Autorin nicht nur die Möglichkeit zum Auftritt in der Radiosendung, sondern auch die physische Kassette gegeben hat – oder ob es sich um eine eigene, nachträgliche Aufnahme durch die Autorin selbst oder durch Angehörige handelt.
Ebenso interessant ist die Frage, wie der Radiosender nicht nur die Autorin, sondern auch Kriterien zur Auswahl dieses speziellen Romans getroffen hat.
Möglicherweise kam das betreffende Werk zu der Zeit frisch aus dem Druck und die Gelegenheit für die Autorin genau zum rechten Zeitpunkt, um ihr neuestes Werk vorzustellen und dem Radiopublikum zugänglich zu machen.
Mit dem Auftritt im Radio fällt Gabriele Wohmann mit ihrer literarischen Arbeit einem breiteren Publikum auf und die Zuhörenden ein Urteil darüber, ob der Inhalt des Vorgelesenen für ihr eigenes Leben Relevanz hat.
Die Kassette mit dem Auftritt der Autorin im Rundfunk steht nun im Literaturarchiv in Marbach und in Verbindung mit einer ganzen Reihe an Lesungen anderer Autorinnen und Autoren. 

Text 2

 

Klammernde Konfusion 

 

f (t) = Wenige Augenblicke nach dem Druck auf die Play-Taste löst die berichterstattende Stimme das frangendrängende Bedürfnis aus, auf die Verpackung der Kassette zu schauen,  die, man muss sich vergewissern, ob auch wirklich der richtige Tonträger eingelegt ist. Der Grund für diese Konfusion ist eine Tatsache, die man bei selbst aufgenommenen Tonträgern immer bedenken muss, nämlich ist nicht alles Teil dessen, ist intendiert, auf der Kassette zu sein.

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(In medias res setzt eine Nachrichtensendung ein, in der über den Libanon berichtet wird, die sich so lange zieht und als Effekt hat, man überdenkt seine vorherigen Ideen und Vorstellungen darüber, wovon es in einem Roman mit dem Titel Frühherbst in Badenweiler handeln kann. Die Assoziation drängt sich auf, dass die Autorin Gabriele Wohmann diesen dezidiert heimatlich-klischeehaft anmutenden Titel nur aus diesem Grund gewählt hat, ein scharfes Konterkarieren des Titels durch den Inhalt wird ermöglicht, um somit entweder Kritik zu üben oder durch das Unterminieren von Erwartungen auf alteingesessene Konventionen aufmerksam zu machen.

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[Die eigentliche Lesung wird schließlich eingeleitet von einer doppelten, ausführlichen Einführung, die, durch den Sprecher und die Autorin selbst, findet statt. Wie die sich öffnenden Klammern einer intrikaten mathematischen Gleichung werden dem Radiopublikum Informationen verschiedener Ebenen auf dem akustischen Silbertablett serviert, die dafür sorgen, man weiß zur Genüge, worum es sich handelt. Die Sehne des Bogens, der klammernartig um die Sendung gelegt wird, ist zum Zerreißen gespannt, da, in Erwartung der Sendung, man muss erst abwarten. Jeder erste Mittwoch eines Monats ist speziell reserviert, da anhand nicht näher definierten Qualitätsmerkmalen ausgewählten Autorinnen und Autoren die Möglichkeit gegeben wird, sie lassen ihre eigenen Worte mit ihrer Stimme lebendig werden. 

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{Eine weitere Klammer öffnet sich, als der Sprecher auf den Roman „Frühherbst in Badenweiler“ eingeht und diesen Roman einführt, indem er eine kurze Inhaltsangabe gibt, der rötliche Schein des Zwielichts dämmert über der Vermutung, dass die Annahme über einen scharfen Kontrast zwischen Inhalt und Titel nur eine Fehlannahme war. Nach einem Hinweis des Sprechers darauf, diese Aufnahme wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt getätigt, die Lesung startet und man hört zum ersten Mal die Stimme der Autorin selbst. 

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Gabriele Wohmann ihrerseits ist nicht darauf bedacht, die vom Sprecher geöffneten Klammern zu schließen, sondern öffnet ihre eigenen Klammern, indem sie unabhängig von der vorherigen Ausführung, sie charakterisiert den Protagonisten Hubert Frey ausgiebig. Den Titel erklärt Wohmann, indem sie erläutert, die Stimmung, die sie selbst insbesondere hinter den Worten „Frühherbst“ und „Badenweiler“ sieht und, interpretatorisch, was sie mit ihrem Protagonisten zu tun hat.
Den geranienroten Ort Badenweiler schildert sie als eine Gemeinde, die dafür prädestiniert ist, viele alte Leute leben hier und ein Klima der Behäbigkeit zeichnet ihn aus. Der Frühherbst zieht seine semantischen Kreise deshalb über Badenweiler, weil er eine bedeutende Zeit für den Protagonisten Frey ist, als die Zeit, seine ganze Existenz bricht im Übergang zwischen Sommer und Herbst auseinander.
Interpretatorisch führt die Autorin bereits so tief in die Sphären ihres Werks ein, dass die Spannung auf zehn Volt absinkt, indem sehr ausführlich, sehr präzise, das Radiopublikum erhält den Inhalt des Romans in konziser Form. Nur eine kurze Sprechpause leitet den Beginn der Lesung ein, die so unvermittelt startet, dass sie, konfusionsbeladen richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf den Roman.
Zunächst verhalten tastet sich die Stimme der Autorin über ihren eigenen Text, streichelt die Worte wie eine zutrauliche Katze in einem ätherisch-lavendelverhangenen Park in Badenweiler, piano, ehe sie mit Fortschreiten der Verbalisierung ihres eigenen Schriftstücks mehr und mehr dazu übergeht, sie setzt stärkere Betonungen und auch die wörtliche Rede wird stärker betont, forte, was den Effekt hat, den Figuren verleiht sie zunehmend mehr Ausdruck.
Am Ende der Lesung hat wieder der Sprecher das Wort, der die Klammer um Gabriele Wohmanns sprachliche Darbietung schließt, ein weiteres Mal erwähnt, dass es sich um eine Aufzeichnung handelt. Die nachfolgend eingeblendete Jazzmusik ist ein akustischer Parallelismus zu Wohmanns Darbietung, von piano über forte, nimmt sie exponentiell Fahrt auf und, gegen Ende hin, sie verabschiedet sich klangvoll. Ob die Jazzmusik die Klammer hinter der Lesung schließt, ist nicht eindeutig, denn konfusionserzeugend, das Spektrum an Klammern hat sich zusehends erweitert.}

Nach der Musik folgen weitere Nachrichten, die von dem Sprecher vorgetragen, diesmal betreffen sie die Niederlande. Das Wetter folgt dann, nur um für einen Bericht der Verkehrslage zu weichen, die ihrerseits nebulös weitere Klammern öffnen, die in Anbetracht der bereits geendeten Lesung, die Hauptzweck der Kassette ist, die Verkehrsmeldung ist ein in sich unabgeschlossenes und nicht zum Zweck der Aufnahme gehörendes Werk. Es ist 21:04 Uhr und die aktuelle Staulage, die lediglich eine Momentaufnahme ist, ganz im Gegensatz zu der Lesung Wohmanns, der Sprecher berichtet.]

Andererseits erscheint der Roman und die Lesung daraus im Lichte der vergänglichen und temporären, jederzeit veränderbaren Erscheinungen wie der aktuellen Nachrichten oder dem Wetter wie ein Fixstern im Rundfunkhimmel, da sie nicht, sie ist kein ständig sich wandelndes Medium. Wo doch ein Roman, kann er überarbeitet und zu einem späteren Zeitpunkt in einer revidierten Fassung vorgetragen werden, er ist in seiner Ganzheit schwarz auf weiß fixiert. Das nachfolgende Kabarett mit den Querköpfen hatte, dem Abbruch der Aufnahme nach, auf der Kassette war kein Platz mehr.) 

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