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Mascha Kalékos Schale

 

 

An die Leser*innen von Sarah Trost

Die beiden von mir verfassten Texte befassen sich mit einem Objekt der Lyrikerin Mascha Kaléko. Mein ausgewähltes Objekt ist eine versilberte Kupferschale. Bevor ich auf meine Motivation hinsichtlich der Wahl von Mascha Kaléko und dem Objekt eingehe, möchte ich einen kurzen Abriss über das Leben der Lyrikerin geben.

1. Biographische Daten

Mascha Kaléko wurde am 7. Juni 1907 im galizischen Chrzanów als erstes Kind einer jüdischen Familie geboren. Heute gehört der Ort zu Polen, damals war er Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Der Vater Fischel Engel war russischer Staatsbürger, die Mutter Rozalia stammte aus Mähren in Österreich.

Als Mascha sieben war, emigrierte die Familie 1914 nach Deutschland. Viele osteuropäische Juden verließen damals aus Angst vor Armut und Verfolgung ihre Heimat. Die Familie zog erst nach Frankfurt, dann nach Marburg und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Berlin. Drei Ortswechsel in zehn Jahren ließen in Mascha Gefühle von Verlassenheit und Heimatlosigkeit entstehen, die sie ein Leben lang begleiten würden.

Schnell fand die junge Frau Anschluss an die Bohème-Szene. 1929 erschienen ihre ersten Gedichte. Die renommierte Vossische Zeitung und andere Magazine wie „Tempo“ oder der „Simplicissimus“ druckten ihre Verse schon bald regelmäßig. Die Berliner liebten die stenografischen Alltagsbeobachtungen der jungen Dichterin, ihre freche Mischung aus Spott, Ironie und Gefühl – angereichert mit der Lebensweisheit des jüdischen Ostens. Im Januar 1933 publizierte der Verleger Ernst Rowohlt ihr erstes Buch „Das lyrische Stenogrammheft“.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten änderte sich das kulturelle Klima abrupt. Mascha Kaléko wurde 1935 aus der „Reichsschrifttumskammer“ ausgeschlossen und bekam Schreibverbot. Sie trennte sich von Ihrem Mann Saul und heiratete den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver, der sich der Aktualisierung jüdisch-chassidischer Chormusik widmete. Im September 1938 verließ das Paar mit dem gemeinsamen Sohn Evjatar Berlin und emigrierte nach New York.

Von 1938 bis 1960 lebte und arbeitete Mascha Kaléko mit Chemjo Vinaver und ihrem Sohn, der sich inzwischen Steven nannte, in New York. 1955 bereiste sie Europa. Bei Rowohlt erschienen Neuauflagen ihrer Bestseller aus den 20er- und 30er-Jahren. Die Akademie der Künste wollte ihr den Fontane-Preis verleihen, doch sie verweigerte dessen Annahme. Der Grund hierfür war, dass das Jurymitglied Hans Egon Holthusen langjähriges Mitglied der SS war und sie als jüdische Emigrantin den Preis nicht aus den Händen eines Nazis entgegen nehmen wollte.

Das Ehepaar Kaléko / Vinaver übersiedelte 1960 nach Jerusalem, damit Chemjo Vinaver sein Lebenswerk vollenden konnte: eine Anthologie jüdisch-chassidischer Gesänge. Mascha Kaléko sprach kein Hebräisch und fühlte sich in Israel fremd. 1968 starb überraschend ihr Sohn im Alter von 31 Jahren in New York an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung. Von diesem Schock erholte sich das Paar nicht mehr. Chemjo Vinaver starb vier Jahre später. Mascha Kaléko litt unter Magenkrebs. Sie reiste noch einmal nach Berlin und las dort aus ihren Gedichten. Auf der Rückreise wurde sie in Zürich operiert. Zu schwach, um nach Jerusalem zurück zu kehren, starb sie am 21. Januar 1975 in einem Spital.

2. Motivation hinsichtlich der Wahl der Lyrikerin und des Objekts

Das erste Gedicht von Mascha Kaléko, das ich kennenlernte, war „Letztes Lied“. Es wurde in dem Fernsehfilm „Der letzte schöne Tag“ auf der Beerdigung der Protagonistin vorgetragen. Der Tonfall faszinierte mich und weckte mein Interesse an der Lyrikerin. Seit diesem Zeitpunkt haben mich die Gedichte Mascha Kalékos durch verschiedene Stationen meines Lebens begleitet.

Mascha Kaléko sprach nie gerne über sich selbst. Sie verwies stets auf ihre Gedichte und wies darauf hin, dass man viel über sie selbst und ihr Privatleben erfährt, wenn man ihr lyrisches Werk liest.

Die Berliner Sängerin und Liedermacherin Dota Kehr veröffentlichte in den Jahren 2020 und 2023 zwei Alben mit Vertonungen von Gedichten Mascha Kalékos. Die Lieder von Dota Kehr erlauben nun noch einmal einen ganz neuen Zugang zu ihren Gedichten.

Es wäre schön, wenn Sie, liebe Leser*innen, durch meinen Beitrag neugierig auf die Gedichte von Mascha Kaléko werden.

Text 1 – Fragen

 

Woher stammte diese Schale? Von einem der unzähligen Händler auf dem Markt in Jerusalem? War Steven bei dir, als du sie gekauft hast? Hattest du jedes Mal, wenn du die Schale angeschaut hast, sein fröhliches Lachen im Ohr und hast dich an den schönen Tag erinnert, den ihr verbracht habt, als du die Schale gekauft hast? Hast du sie deshalb verschenkt? Hast du es nicht mehr ertragen, die Schale ansehen zu müssen, nachdem Steven gestorben war? Hast du sie weggegeben in der Hoffnung, dass damit der Schmerz weniger wird? War es so? Hat es dir geholfen? Wurdest du von Chemjo bei der Entscheidung, die Schale wegzugeben, unterstützt? Oder wollte er gar die Schale als Andenken an Steven behalten? Gab es deshalb Streit zwischen Euch? Hat Chemjo schließlich nachgegeben, weil er keine Kraft mehr hatte, noch länger mit dir zu streiten? Oder endete euer Streit, da ihr beide zu der Einsicht gelangt seid, dass Euch – unabhängig davon, ob ihr die Schale behaltet oder nicht – nichts auf der Welt euren toten Sohn zurückbringen kann?

Oder hatte die Schale gar keine tiefere Bedeutung für dich? War sie dir vielleicht sogar lästig? Mochtest du sie nicht, weil sie symptomatisch für das Land steht, in dem du so wenig angekommen bist? Symptomatisch für ein Land, von dem du enttäuscht und isoliert warst? Hat dich die Schale immerzu an die negativen Seiten von Israel, dem Land, in dem du nie leben wolltest, erinnert? An die Hitze und die Wüstenwinde, unter denen du so gelitten hast? An die Lautstärke, die dort in den Straßen, den Gassen und den Marktplätzen herrschte? An die Menschen dort, die dir immer zu laut, stets zu aufdringlich, oft zu aggressiv waren und die du meist nicht verstanden hast, weil dein Ivrit viel zu schlecht war?

Hättest du die Schale weggegeben, wenn du sie in Berlin gekauft hättest? Hattest du überhaupt Andenken an Berlin bei dir? Wurde deine Sehnsucht nach Berlin weniger, als du 1957 zum ersten Mal wieder dort warst und gesehen hast, wie die Stadt sich verändert hat? Oder wurde dadurch deine Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem alten Berlin, sogar noch größer?

Hat Chemjo dich verstanden? Hat er sich gefreut, als du die palästinensische Schale an Christoph Niemöller verschenkt hast? Hat er sich gefreut, weil er glaubte, du schenkst ihm hiermit einen Besitz, der für das Ankommen in deiner neuen Heimat Israel steht? War er stolz auf dich, weil du einem Deutschen solch ein Geschenk gemacht hast? Weil du Niemöller dadurch gezeigt hast, dass Israel und die dortigen Gebräuche und Eigenheiten nun zu deinem Leben gehören? Hat Chemjo gedacht, dass du dein Deutschsein in Israel aufgegeben und dich ganz auf die neue Heimat eingelassen hast? Hat er geglaubt, dass man Identität ablegen kann wie einen Pullover? Hat er verstanden, wie wichtig die Begegnung mit Niemöller, einem deutschen Kulturreferenten, für dich war und welche Bedeutung es hatte, dass du diesem ein Geschenk gemacht hast? War es so?

Oder war es doch ganz anders?

Text 2 – ein Tagebucheintrag

 

Jerusalem, den 24. März 1970

Heute ging ich mal wieder ganz beschwingt die Stufen der Altstadt hinunter. Einfach, weil mir danach war. Mein Herz fühlte sich nach langer Zeit einmal wieder leicht an.

Vor ein paar Tagen habe ich Christoph Niemöller in Tel Aviv bei einer Veranstaltung im German Embassy Culture Center in Tel Aviv getroffen. Er war dort als Kulturreferent der Deutschen Botschaft der Gastgeber und ich durfte der Ehrengast sein. Was für eine Ehre! Da es mir nicht gut ging, konnte ich meine Gedichte leider nicht selbst vortragen. Dies hat die Schauspielerin Maria Schell für mich übernommen. Sie hat es ganz vorzüglich gemacht.

Christoph Niemöller sagte mir, dass es ihn an den Abend im Juni 1968 erinnere, als wir auf seine Einladung hin in kleinem Kreis das Erscheinen meines Gedichtbandes „Verse in Dur und Moll“ in Zürich gefeiert hatten. Noch jetzt, beim Niederschreiben wird mir warm ums Herz bei der Erinnerung an diesen Abend. Und gleichzeitig fühle ich einen Stich im Herzen. Fand dieser Abend doch nur einen Monat, bevor mein lieber Steven starb, statt. Wie nah Erfolg und Glück und das größte Leid doch manchmal beieinander liegen.

Jetzt sind es schon beinahe zwei Jahre, dass mein geliebter Sohn mir genommen wurde. Der Abend in Zürich, bei dem Christoph Niemöller das Erscheinen meiner „Verse in Dur und Moll“ feierte, war der letzte Abend, an dem ich öffentlich meine Gedichte selbst vorgetragen habe. Seit Stevens Tod fehlt mir die Kraft dazu. Dennoch fehlt es mir, denn das Publikum war mir stets sehr zugetan.

Diese Aufmerksamkeit tat mir gut, ich habe sie genossen, zumal sie das genaue Gegenteil dessen war, was ich hier in Israel erlebe. Wenn ich daran zurückdenke, mit wieviel Hoffnung und Zuversicht Chemjo und ich damals hierher gekommen sind. Und in den ersten Tagen in Jerusalem im Oktober 1959 war da ja auch eine große Vertrautheit. Im Nachhinein muss ich aber wohl zugeben, dass diese vermeintliche Vertrautheit eher aus Sentimentalität und Rührseligkeit meinerseits bestand. Seit frühester Kindheit an war mir dieser Flecken Erde als das ‚Land der Väter‘ angepriesen und gelobt worden.

Fast tragisch mutet es da an, dass je länger ich hier lebe, immer mehr die Nachteile überwiegen. An manche Dinge konnte ich mich allerdings von Anfang an nicht gewöhnen. Etwa daran, dass es hier keine Abenddämmerung gibt. Je nach Jahreszeit fällt zwischen 16 und 17 Uhr am Nachmittag plötzlich und ohne jede Vorwarnung die Nacht vom Himmel. Schrecklich. Auch nach 11 Jahren ängstigt mich dieses Phänomen noch immer.

Auch die trockenheißen Wüstenwinde im Sommer waren von Anfang an eine große Belastung für mich. Überhaupt macht das Klima Chemjo und mir immer mehr zu schaffen. Wir beide sind auch immer öfter krank.

Die Mentalität der Menschen hier, die doch häufig orientalisch geprägt ist, ist ein weiterer Nachteil, der mich bedrückt. Werte wie Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit spielen hier eine nur untergeordnete Rolle. Für Chemjo, dessen Anlagen zum Perfektionismus neigen, ist die Mentalität der Menschen noch befremdlicher als für mich.

Immerhin versteht er aber die Sprache, kann sowohl Hebräisch als auch Ivrit. Ich fühle mich selbst nach elf Jahren hier immer noch als Touristin, da ich die Sprache nicht spreche. Wie schwer es dadurch ist, neue Kontakte zu knüpfen oder Freunde zu finden, erfahre ich immer wieder.

Die deutsche Sprache fehlt mir sehr. Kein Theater, kein Radio kein Vortrag stehen mir aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse hier zur Verfügung. Kein Wunder, dass ich in den Sommermonaten, wenn ich in Deutschland und der Schweiz bin, alle Möglichkeiten ausschöpfe, die sich mir kulturell bieten. Die Reisen in die Schweiz und nach Deutschland tun mir gut. So kann ich dort kulturell meine Akkus erneut aufladen. Dort habe ich Kontakt mit meinen Leserinnen und Lesern, kann als Autorin auftreten und erfahre die Zuneigung des Publikums. Eine Erfahrung, die mir hier nahezu gänzlich versagt bleibt.

Die Veranstaltung im German Embassy Culture Center in Tel Aviv bildete da eine wohltuende Ausnahme. Was für eine Freude, dass Christoph Niemöller mich nicht vergessen hat und nun, wo er im Kulturreferat der Deutschen Botschaft in Israel arbeitet, mich als Ehrengast zu einer Veranstaltung einlud.

Zwei Mal schon hat er mir zu Ehren eine Veranstaltung ausgerichtet. Da ist es fast verwunderlich, wenn ich an seine Reaktion heute zurückdenke, als ich ihm die Schale überreichte. Er war überrascht, fast perplex. Er hatte wohl nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass ich mich bei ihm auf diese Weise bedanken wollte. Dabei wollte ich ihm schon viel früher ein Geschenk machen. Er sollte wissen, wie unendlich dankbar ich ihm bin. So hat er mir in Zürich zu einer neuen Leserschaft und einem vor Lobhudelei nur so sprudelnden Artikel verholfen und auch in Tel Aviv war die Nachfrage nach meinen Gedichtbänden groß. Vielleicht kann ich ja nun auch hier bald mal eine Lesung machen.

Ich wusste nur lange nicht, welches Geschenk passend für Christoph Niemöller wäre. So war es doch ein großes Glück, dass ich mit Steven im September 1963, als er Chemjo und mich zum ersten in unserer neuen Wohnung in Jerusalem besuchte und zwei Wochen blieb, immer wieder das Muslimische Viertel durchstreift habe, weil Steven von den Händlern, den Gerüchen und dem lebhaften Treiben dort so fasziniert war. Wer weiß, ob mir sonst der kleine Laden aufgefallen wäre, in dem die Waren aus Hebron angeboten werden.

Lange hatte ich überlegt, ob Christoph Niemöller eine Keramikschale oder diese versilberte Kupferschale schenke. Ich entschied mich letztlich für die versilberte Kupferschale. Keramik ist leicht zerbrechlich. Kupfer nicht. Darin ähnelt es mir. Mich haben die äußeren Umstände und Schicksalsschläge zweifelsohne geprägt, aber nicht zerbrochen. Dann ist die Schale aus Kupfer, jedoch versilbert. Demnach ist sie nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkt man, das sich hinter der glänzenden äußeren Schicht noch etwas anderes verbirgt. So verhält es sich sowohl hinsichtlich meiner Person als auch hinsichtlich meiner Lyrik.

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