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Irmtraud Morgners Zeichnung

 

Raumtext von Linda Jentzsch

Gegenstand beider Texte ist eine Zeichnung, die im Archiv unter Paul Wiens abgelegt ist.

Zuerst verfasste ich einen Text zu dieser Zeichnung, ohne sie gesehen zu haben. Ich stellte mir gleich vor, wie Irmtraud Morgner mit ihrem Sohn und ihrem Ehemann Paul Wiens im Urlaub an einem Tisch sitzen und diese Zeichnung anfertigen. Vermutlich regnet es draußen oder sie haben eben zu Abend gegessen und sitzen noch ein bisschen beisammen. Sie sind in heiterer Stimmung. Dieses Bild lag für mich sicherlich nahe, weil ich zuvor im Archiv die digitalisierten Urlaubsfotos des Paares angeschaut hatte. Auf Grundlage dieses Gedankenspiels entstand also der erste Text. Im Hinterkopf hatte ich dabei auch das, was Morgner in Zukunft geschehen soll: der Verrat durch ihren eigenen Mann, ihre Krankheit, aber aber auch ihren Erfolg außerhalb der DDR, der sie sogar zu Lesungen bis in die USA reisen ließ.

Der zweite Text entstand aus der Not heraus, die Zeichnung noch immer nicht betrachten zu können, da sie bislang noch nicht auffindbar war. Ich begann darüber nachzudenken, was für eine Botschaft diese Zeichnung übermitteln würde, läge sie vor mir. Eingeflossen sind meine Gedanken zu Irmtraut Morgner und was ich mit ihr inzwischen verbinde. Die Zeichnung hat sich vor meinen Augen verselbständigt und ist in einen Dialog mit mir getreten. Dabei hatte ich Irmtraud Morgner als starke und selbständige Frau vor Augen, die sich in einer vordergründig gleichgestellten Gesellschaft gegen die Männer und Konventionen ihrer Zeit durchzusetzen und im Schreiben Freiheiten für sich erlangen konnte.

Gedankenspiele

 

 

Text 1: Fragenmonolog

Warum hast du diese Zeichnungen aufgehoben?
Habt ihr, du und Paul, die Bilder gemeinsam gezeichnet? Hast du ihn darum gebeten? Haben sie dir gefallen und du hast sie an dich genommen, vermutlich ohne zu fragen? Dinge, welche nicht für die Ewigkeit bestimmt sind, sind oft die kostbarsten – eine kleine Randnotiz, eine winzige Skizze auf dem Einkaufszettel. Von ihm?

Oder erinnern dich die Drachen an Züge? Die faszinieren dich, nicht wahr? Ist es nicht, als flöge ein Drache vorüber, wenn so eine Dampflok vorbeisaust? Mit Rauch, wie aus den Nüstern eines Lindwurms?

Dein Vater war Lokführer, die Frauen in deinen Werken führen Züge, Protagonisten bereisen mit dem Zug die Welt. Bist du aufgeregt, wenn ein Zug in den Bahnhof einfährt? Würdest du gerne einsteigen und dieses Land, dass es in Zukunft nicht mehr geben wird, einfach verlassen? Mit deinem Sohn natürlich – aber doch ohne deinen Noch-Ehemann, oder?

Er wird dich verraten. Hast du etwas geahnt? Wusstest du etwas, oder hast du voller Liebe die Augen verschlossen? Kann man so etwas denn überhaupt wissen? Was passiert mit einem, wenn solch eine unaussprechliche Vermutung im Raum steht? Was hat das mit dir gemacht? Bist du zerbrochen? Oder daran gewachsen? Wurdest du zu einem furchtlosen Drachen und hast dich dem Leben gestellt?

Seid ihr drei, Paul, dein Sohn und du, diese drei Drachenzeichnungen? Ist es eine Art Familienporträt? Ihr seid auf einzelnen Blättern, aber können diese zusammengefügt werden?

Und was soll das heißen unten im Bild: „rössel/genössel/sei gut stössel“?

Das kannst doch nur du dir ausgedacht haben, nicht wahr? Würde Paul das wirklich sagen, möglicherweise schriftlich festhalten? Du bist eine starke, bedachte Frau – warum solltest du nicht das System kritisieren? Ein scheinbar zusammenhangloser Reim, aber du hast dir etwas dabei gedacht, oder irre ich mich?

Wie in deinen Büchern: du gibst Frauen eine Stimme und ermutigst sie auch zu Drachen zu werden. Starke Wesen, voller Kraft und Leidenschaft. Oftmals Einzelgängerinnen, die gemeinsam aber großes bewirken können. Das ist doch das, was du wolltest?

 

 

Text 2: Die verlorene Zeichnung

Ich bin’s – die Drachenzeichnung. Die Verlorene.
Das Blatt Papier, das du so gerne in den Händen halten wolltest.
Das du mit deinen Sinnen wahrnehmen, mit deinen Fingerspitzen spüren, mit all deinen Erwartungen betrachten wolltest.
Aufnehmen wolltest du mich. Teil deiner Geschichte sollte ich sein.
Ein Baustein dieses Projekts sollte ich werden.
Funkeln und glitzern sollte ich.
Und Glänzen.
Und alle beeindrucken.
Die Zeichnung einer großen Frau präsentieren. Einer Frau mit mehr als einer Geschichte – mit einem ganzen Leben. Einer Frau mit der Gabe zu erzählen.
Geschichten.
Geschichten über die alltäglichen Dinge.
Mären.
Mären über Wunderbares.
Schilderungen.
Schilderungen von Emotionen.
Erzählungen.
Erzählungen über Vergangenes.

Erzählungen einer Frau.
Einer Frau in den neunzehnfünfzigern.
Einer Frau in den neunzehnfünfzigern im Osten.
Im anderen Deutschland.

Was bleibt dir denn anderes übrig als mich zu wählen?
Mich wolltest du zeigen. Du wolltest dir etwas ausdenken, mich beschreiben.
Du wolltest ein paar schöne Worte dazudichten.
Etwas von ihrem Glanz abschaben und selbst auftragen.
Von ihrem Leben lernen.
Es besser machen?
Anders?
Du hättest auch sofort eines der Urlaubsfotos wählen können.
Aber du bliebst bei mir –
Nun sage ich dir: Schau dir doch einmal die Zeichnung von Günter Kunert an!
Er malte sie mit schnellem Strich. Er malte sie sehr bedacht.
Er schmückte sie mit ihrer üppigen Kurzhaarfrisur.
Er vergas nicht ihre Augenbrauen.
Er zeigt uns ihr markantes und klares Gesicht.
Und fällt es dir auf? Hast du ihre Haare bemerkt? Sie umrahmen ihr Gesicht.
Sie wirken wie ein Schutzhelm.
Er hütet ihren Kopf. Und er beschützt, was sie ist.
Was aber genau ist sie?
Wer ist Irmtraud Morgner?

Sie ist eine Frau.
Eine Frau in den neunzehnsechzigern.
Eine Frau in den neunzehnsechzigern im Osten.
Im anderen Deutschland.

In dem einen Teil Deutschlands, in dem Frauen früher gleichgestellter waren als in dem anderen Teil.
Sie mussten. Sie wurden gebraucht.
Selbstbestimmter, selbständiger.
Sie verdienten ihr eigenes Geld.
Sie entschieden über ihren Körper.
Sie waren freier als ihre Kolleginnen auf der anderen Seite.
Dachten sie.
Oder waren sie eingesperrt?
Sie aber wurde immer wieder frei gelassen.
Sie durfte andere Luft riechen.
Anderes Meer sehen und andere Speisen probieren.
In die Ferne gehen statt sehen.
Deshalb war sie keine Frau wie die anderen Frauen um sie herum. Oder wie die auf der anderen Seite.

Sie ist eine Frau.
Eine Frau in den neunzehnsiebzigern.
Eine Frau in den neunzehnsiebzigern im Osten.
Im anderen Deutschland.

Du hättest auch eines der Urlaubsfotos wählen können.
Siehst du sie? Und siehst du Paul?
So stellst du dir Bele vor, nicht wahr?
Und auch Paul stellst du dir so vor.
Kannte sie ihn vor Konstantinopel bereits?
Die Bilder der Erzählung tun sich vor dir auf: da sind sie am scharfsteinigen Strand, wo Paul schwimmen ging. Sie ging da nicht schwimmen. Sie konnte nicht.
Und hier sitzt sie am Frühstückstisch.
Und zwischen den Momenten erzählt sie ihre Geschichten.
Geschichten von Freiheit.
Geschichten von Essen.
Geschichten von Liebe.
Von Geduld.
Von Anpassung.
Von Verständnis.
Entscheidungen.
Abgrenzung.
Familie.

Das alles siehst du, obwohl du mich nicht sehen kannst.
Du brauchst mich nicht, um ihr Nahe zu sein.
Du liest ihre Geschichten und bist ihr dadurch nah.
Das ist Lesen. Und ist Schreiben. Ist die Beziehung zwischen Autor:in und Leser:in.
Intim.
Verworren.
Dabei distanziert.
Klar.

Sie ist eine Frau.
Eine Frau in den neunzehnachtzigern.
Eine Frau in den neunzehnachtzigern im Osten.
Im anderen Deutschland.

Ihren Platz in der Geschichte der Frau zu betonen ist entbehrlich.
Nutzlos.
Und ihren Platz in der Geschichte der Frau zu betonen ist sinnvoll.
Wichtig.
Sie soll nicht vergessen werden.
Sie soll nicht verloren gehen.
Ihrer soll gedacht werden.
Ihre Geschichten sollen gelesen werden.

Sie ist eine Frau.
Eine Frau am Anfang der neunzehnneunziger.
Eine Frau am Anfang der neunzehnneunziger in Deutschland.
Eine Frau wie die anderen. Und doch anders.

Gleiches Land und ungleiche Frauen.
Verlorene Frauen.
Vergessene Frauen.
Gesehene Frauen.
Gelesene Frauen.
Frauen, die kämpfen.
Frauen, die gewähren.
Frauen, die leben.
Frauen, die lieben.
Die lesen.
Die schreiben.
Die Leben schenken.
Leben nehmen.
Sind.
Bleiben.

Siehst du: Ich funktioniere auch ohne zu existieren.
Die Idee genügt.
Die Idee ist der Anfang aller Dinge.
Der Anfang aller Kämpfe.
Der Anfang großer Frauen.
Aller Frauen.

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