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Ilse Aichingers Prosa-Entwurf

 

von Julia Mayer 

Meine Kurzgeschichte „Als die Welt noch nicht war“ (Text 2) zu Ilse Aichingers Prosa-Entwurf im Literaturarchiv Marbach greift bewusst nur die ersten Worte des Objekts auf: Die elementare Frage nach dem Ursprung hat mich in ihren Bann gezogen.

In meiner Kurzgeschichte steht die Mutter-Tochter-Beziehung für die Suche nach Herkunft und damit auch nach Zugehörigkeit und Zukunft. Auch in Ilse Aichingers Biographie spielt die Herkunft eine zentrale Rolle. Durch die jüdische Herkunft der Mutter ist unter der Nazi-Herrschaft die Zukunft ihrer Familie bedroht. Aichinger lebt bis Kriegsende und über ihre Volljährigkeit hinaus mir ihrer Mutter zu zweit zusammen, beide entgehen der Deportation. Aichinger Zwillingsschwester ist nach England ins Exil gegangen. Auch diese Elemente – das Zusammenleben auf engem Raum, das Erwachsenwerden der Tochter, die Bedrohungen von außen – werden in meiner Kurzgeschichte aufgegriffen.

Text 1

 

Wie ist die Form des Entwurfs? Welche Motive und Themen spiegeln sich wider? Wie ist der prosaische Text aufgebaut? Ist der Text gegliedert? Gibt es einen Adressaten? Gibt es einen Anlass für den Text? Lassen sich Bezüge zu einem bestimmten Ereignis ziehen? Welcher Bezug besteht zu anderen Texten von Ilse Aichinger? Was ist die Handlung des Textes? Was war als die Welt noch nicht war? Was wird beschrieben? Welche Protagonisten kann dieser vor dem Anbeginn der Welt verortete Text haben? Gibt es überhaupt handelnde Personen? Und wenn ja wie sind sie charakterisiert? Gibt es erkennbare Handlungsschritte? Gibt es Referenzen zu religiösen Vorstellungen zur Entstehung der Welt? Wie stellt man sich das vor, wie es war als die Welt noch nicht war? Welche stilistischen Mittel verwendet der Text? Und welchen Zweck erfüllen diese? Wie sind die Sätze aufgebaut – parataktisch der hypotakisch? Wie wirkt der Text? Wodurch wirkt der Text? Gibt es Anhaltspunkte dafür, warum der Text unveröffentlicht blieb? Gibt es Hinweise auf das Entstehungsdatum des Textes? Lässt der Text Rückschlüsse auf die Entstehung des Textes zu? Wurde der Text augenscheinlich überarbeitet? Ist das Faksimile handschriftlich oder gedruckt?

Text 2: Als die Welt noch nicht war

Als die Welt noch nicht war, was war denn da? Warte, was hast du gesagt?
Was war denn, als die Welt noch nicht war?
Ja warte noch. Ich sag es dir gleich.
Mutter rührt im Topf. Mit ihrer linken Hand wischt sie sich Schweißperlen von der Stirn. Ich schaue sie von der Seite an. Die Küche ist plötzlich eng und heiß.
Als die Welt noch nicht war, da gab es nichts, oder?
Ich trommele mit meinen Fingern auf dem Tisch.
Sag doch!
Hör auf!
Was denn?
Sie zeigt auf meine Finger. Ich nehme die Hand vom Tisch und vergrabe sie in meinem gelben Leinenkleid.
Und?
Mutter schaut mich komisch an. Mit zitternden Händen legt sie den Löffel beiseite. Das helle Holz ist ganz verfärbt.
Ja, warte—ich sag es dir gleich.
Sie nimmt den Topf vom Herd und beginnt die ausgekochten Gläser zu befüllen.
Sie zuckt zusammen. Ich glaube sie hat sich verbrannt.
Alles in Ordnung?
Ja. Nun warte doch.
Ich schweige. Mutter legt ihre warme rote Hand auf mein Bein.
Hör auf zu zappeln. Du machst mich nervös.
Darf ich probieren?
Sie nickt. Fahrig reicht sie mir einen kleinen Löffel. Ihre linke Hand hält sie zitternd darunter.
In der Abendsonne, die durch das kleine Fenster scheint, strahlt ihr rotbraunes Haar wie ein Heiligenschein. Die Luft ist feucht und riecht nach Pflaumen in Zimt. Und ein bisschen nach Zwiebeln. Ich habe Bauchweh. Aber ich sage nichts.
Ja, komm. Probier!
Mutter streckt mir immer noch den Löffel entgegen.
Mhm. Schmeckt gut!
Ich habe mir die Zunge verbrannt.
Mama?
Ja?
Was war denn nun?
Sie blickt zu mir und neigt den Kopf.
Als die Welt noch nicht war?
Sie seufzt. Ich sehe tiefe Falten auf ihrer Stirn und um die Augen.
Sie will sich neben mich setzen. Aber es ist ein bisschen zu eng auf der Küchenbank.
Du bist zu groß geworden! Bald passen wir nicht mehr beide hier rein.
Sie lacht kurz und schiebt sich lächelnd auf den alten Holzstuhl gegenüber. Aber glücklich sieht sie nicht aus.
Sie legt ihre Hände auf den Tisch. Sie sind groß und feucht. Es ist heiß und das Wachstischtuch macht komische Geräusche, als sie darüberstreicht.
Ich suche ihren Blick, aber ihre Augen huschen rastlos durch den Raum. Sie atmet tief ein und wieder aus.
Als die Welt noch nicht war, war alles …
Mutter schluckt.
War alles …
Sie hält plötzlich die Luft an.
Hast du das gehört?
Was denn?
Sie legt eine Hand vor den Mund. Ich soll leise sein.
Durch das gekippte Fenster höre ich nichts außer den Lärm der Straße. Ich schaue meine Mutter fragend an. Sie ist aufgesprungen und steht in der Mitte der Küche. Die Hände sind nun zu Fäusten geballt und ihr Blick ist auf die angelehnte Küchentür gerichtet.
Jetzt höre ich es auch: schwere Schritte im Treppenhaus.
Ich halte die Luft an. Unsere Blicke treffen sich und ich glaube ich sehe Angst in den Augen meiner Mutter. Schnell schaut sie wieder zur Tür. Ich glaube sie will nicht, dass ich die Angst sehen kann.
Die Schritte gehen vorbei und werden nach oben immer leiser. Zeitgleich atmen meine Mutter und ich aus. Ich will lachen.
Was denkst du, wo gehen sie hin?
Mutter schüttelt den Kopf. Wir warten, lauschen, ob wir hören können, was passiert, irgendwo über uns. Aber es bleibt still.
Sie schließt das Fenster. Die feinen Haare auf ihren Armen stehen ihr zu Berge, obwohl es immer noch heiß und stickig ist in der Küche.
Mein Bauch tut weh. Aber ich sage nichts.
Mama.
Sie setzt sich zu mir.
Als die Welt noch nicht war. Was war denn da?
Mutter streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hält inne.
Mhm.
Als die Welt noch nicht war, war alles … rätselhaft.
Sie schluckt. Ihre Stimme ist leise, dunkel, fast flüsternd.
Mutter rückt auf dem Küchenstuhl näher zum Tisch. Näher zu mir.
Als die Welt noch nicht war, war alles nichts, war alles … eine endlose Leere. Und doch voller … voller Sehnsucht.
Mhm. Sehnsucht wonach?
Sie hat mich nicht gehört, glaube ich. Sie malt kleine Kreise mit ihrem Zeigefinger auf die Tischdecke. Ich versuche es noch einmal.
Sehnsucht?
Meine Stimme wirkt zu laut in der nun so stillen Küche. Meine Mutter steht auf. Es ist dunkel geworden und sie macht das Licht an.
Ich kneife die Augen zu. Ich ziehe meine Beine zu mir heran und umschlinge sie mit beiden Armen.
Ich habe Bauchweh, aber ich sage nichts.
Sehnsucht nach dem Leben.
Als die Welt noch nicht war, da war eine Leere voll mit Sehnsucht nach dem Leben.
Sie lehnt sich an den Türrahmen. Ihre Hände streichen gedankenverloren über ihren Bauch, bevor sie die Arme hängen lässt. Ihre Arme mit den großen, warmen Händen.
Mein Blick wandert zu ihrem Gesicht und ich sehe, wie sie weint. Ich sehe, wie meine Mutter weint, wie ihre dunklen Augen gläsern werden und schwere Tropfen über ihre Wangen, übers Kinn auf ihre rote Schürze tropfen.
Ich glaube sie will nicht, dass ich es sehe, also senke ich den Blick.
Kann ich noch was von der Marmelade naschen?
Meine Mutter räuspert sich.
Aber ja. Warte, nimm etwas Brot dazu. Du hast sicher Hunger.

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