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Louise Brachmanns Bücher


Raumtext von Kimberley Holzmann

Hallo, liebe Besucherin, lieber Besucher!

Es ist schön, dass Du deinen Weg hierher gefunden hast. Heute lernst Du eine Autorin kennen, wenngleich nur durch meine Erfahrung und anhand eines Objekts, eines Buchs, das sie geschrieben und in zwei Bänden veröffentlicht hat: „Romantische Blüthen“.

Ich stelle Fragen an das Objekt, an Louise Brachmann, an das Archiv und an mich. An die Vergangenheit, an die Gegenwart, vielleicht auch an die Zukunft. So gut es geht, versuche ich mir einige Fragen selbst zu beantworten. Doch Du wirst es gleich merken: Je tiefergehender die Fragen werden, desto schwieriger wird dieses Unterfangen.

Text 1

 

EINFÜHRENDE FRAGEN: Wer ist Louise Brachmann? Was steckt hinter diesem Werk? Ist es in Prosa geschrieben? Oder in Versen? Steht der Titel für eine Metapher? Was sagt dieses Buch über die Autorin aus? Was ist das Thema? Geht es um Gefühle? Um Verlust? Handelt es sich hier um eigene Gedanken? Um Gedanken über die Welt? Welcher literarischen Stilmittel bedient sie sich? Was versteht die Autorin unter „Romantische Blüthen“? Warum habe ich darüber noch nie gelesen? Warum habe ich davon bisher nicht gehört? Woher kommt Louise Brachmann? Wie hat sie ihr Leben geführt? War Schreiben ihre Leidenschaft? Wie ist sie zu dem Schreiben gekommen? War sie mit jemandem Berühmten verwandt? Hat eine Person sie zu diesem Buch inspiriert? Stehen die „Romantischen Blüthen“ für Autorinnen und Autoren aus der Epoche der Romantik? Geht es vielleicht um die Romantik selbst? Kann ich mit einem Blick in dieses Buch alle meine Fragen beantworten? Wann werde ich dieses Buch vor mir zu liegen haben? Wird es leicht sein, an es  heranzukommen? Was ist, wenn ich enttäuscht werde? Und sich die Fragen dadurch nur noch häufen? Gibt es andere Ausgaben der „Romantischen Blüthen“, die  außerhalb des Archivs zugänglich sind? Was verbirgt sich hinter diesem Titel? Sagt das Buch etwas über ihr Leben aus? Über sie als Person? Lohnt es sich, ein literarisches Werk mit der Autorin zu vergleichen? Ist ihre Autorenintention ein Fakt? Oder selbst immer nur eine Interpretation? Wenn Brachmann noch leben würde, wie würde sie „Romantische Blüthen“ in einem Satz beschreiben? Wie hat sie ihre eigene Zeit wahrgenommen? Die zeitgenössische Gesellschaft? Finden wir dazu etwas in diesem Buch? Geht es dort um Liebe? Um Sehnsüchte? Um Fernweh? Findet man dazu noch weitergehende Forschung? Lassen sich in dem Nachlass womöglich handschriftliche Kommentare und Ergänzungen der Autorin finden? Inwieweit könnte man dieses Buch für eine Hausarbeit verwenden? Was könnte man analysieren? Gibt es Forschungsarbeiten zu Louise Brachmann? Ob diese offenen Fragen mich weiter vorantreiben, mehr über sie zu erfahren?

VORLÄUFIGES FAZIT: Fragen über Fragen? Keiner vermag sie wohl vollständig zu beantworten, außer vielleicht Louise Brachmann selbst? Doch wie viele offene Fragen hatte sie selbst?   Waren es diese offenen Fragen oder die gefundenen Antworten, die sie dazu bewogen, ihr Leben zu beenden? Wir können nur spekulieren? Bücher lesen? Archive befragen?

FRAGEN ZU BRACHMANNS PERSON: Waren es gesellschaftliche Umstände, die Brachmann belasteten? Die männerdominierte Verlagswelt? Die Erwartungen, die an Frauen gestellt wurden? Deren Reduzierung auf ihre „besondere“ Rolle im Haushalt und in der Familie? Wieso haben die zwei Erzählbände der „Romantischen Blüthen“ ihr nicht zumlang anhaltenden  Erfolg verholfen? Hat sie beide Erzählbände gleichzeitig veröffentlicht? Wie fielen die Reaktionen ihres Umfelds aus? Wer mochte sie? Wer war nicht so begeistert davon? Was hielt Brachmann selbst von ihrem Schreiben und insbesondere von ihren Erzählungen? War sie zufrieden? Stolz? Wurde sie von realen Personen inspiriert? Wie viel von ihrem Wesen und ihres Weltbildes steckt in diesen Erzählungen? In ihrem Werk überhaupt? Welchen Zweck wollte sie damit erreichen? Gab es solch einen Zweck überhaupt? Schrieb sie aus Leidenschaft? Aus Freude? Aus Lust? Oder weil sie sonst nicht wusste, womit sie ihr Brot verdienen konnte? Womit sie sich beschäftigen konnte? Wer oder was hat sie in erster Linie dazu bewegt zu schreiben? Was hat sie dazu gebracht, diese Erzählungen zu schreiben? Wie fühlte sie sich dabei? Was fühlte sie dabei? Glück? Aufregung? Leidenschaft? Liebe? Wut?Frust? Langeweile? Hass? Oder alles zusammen? Hätte sie sich je vorstellen können, dass dieser Text eines Tags als Mikrofiche in einem Archiv landen würde, anstatt in einem hübsch verzierten Einband eingebunden in einem Buchladen? Vielleicht unter den Klassikern? Wie könnte dieser Einband genau aussehen? Sähe man – passend zum Titel – Blüten darauf? Und wenn ja, in welcher Konstellation, nach welchem Muster? Wäre diese Blüte die blaue Blume der Romantik? Duften die Erzählungen, bildlich gedacht, nach diesem Symbol? Atmen seinen Geist und seine Seele? Wie sehr war Brachmann diese Epoche vertraut? Kann man von diesen Erzählungen auf ihr Verhältnis dazu schließen? Ist sie nicht sogar Teil davon? Strebte sie nicht nach Unabhängigkeit? Ferne? Freiheit? Erfüllung aller ihrer Sehnsüchte? Nach was sehnte sie sich überhaupt? Waren diese Erzählungen eine Art von Erfüllung? Oder wollte sie all ihre Sehnsüchte lieber unerfüllt lassen? Denn was ist das Leben ohne Sehnsüchte? Ohne Schmerz? Ohne Hindernisse? Kann man es denn als Leben benennen? Setzt sich einer der Erzählungen in den „Romantischen Blüthen“ mit diesen Fragen auseinander?

RAST: Ich merke, dass ich mit diesen ganzen Fragen in eine Art stream of consciousness gelange. Doch gerade muss ich innehalten. Auch Brachmann hat bestimmt nicht am Stück ihre fingierten Geschichten niedergeschrieben. Dann frage ich doch weiter: Wie viel Zeit und Langeweile musste sie vertreiben? Was tat sie anderes außer Schreiben? Hatte sie jemand Besonderen in ihrem Leben, mit dem sie den ganzen Tag zu reden vermochte? Oder war sie eher introvertiert? Eine stille Beobachterin? Nutzte sie ihre Beobachtungen von Personen, externen Gesprächen und Zeitgeschehen für ihr literarisches Schreiben? Damit ich mich nicht in einem endlosen Kreis verfange, richte ich meine Konzentration auf das Objekt selbst?

FRAGEN ZUM OBJEKT: Habe ich die richtige Wahl getroffen? Wäre kein Brief, keine Fotografie besser gewesen? Was wird mich erwarten? Welche Gefühle? Welcher Eindruck? Welche Erfahrungen? Werde ich alles lesen? Werden mich die Geschichten in ihren Bann ziehen? In welcher Schrift wird es gedruckt sein? In Frakturschrift? Schließlich ist das ein Buch aus dem 19. Jahrhundert. Welchen Ton treffen die Erzählungen? Sind sie düster, heiter oder in der Schwebe? Werde ich auf Vielstimmigkeit stoßen? Was ist daran besonders? Muss es etwas Besonderes sein, da es im Archiv gelandet ist? Wird die kommende Leseerfahrung meine Begeisterung wecken? Welche Zielgruppe spricht das Objekt besonders an? Gehöre ich dazu? Trifft der Inhalt meinen Geschmack? Wie lange hat Brachmann daran gearbeitet? Hat das Schreiben dieser Erzählungen sie erfüllt, auf eine Art und Weise, die nur sie zu verstehen vermochte? Was lösen die Erzählungen in einem Leser aus? Warum lässt sich das Objekt nirgendwo anders als im Archiv wiederfinden? Wie viele Personen haben es bereits bestellt? Wie viele Hände hat es bereits durchwandert? Wie viele Kopien wurden davon gemacht? Warum der Titel „Romantische Blüthen“? Stellt jedes dieser Erzählung eine Blüte dar? Oder sind es die Figuren, die darin vorkommen? Wenn ja, in welchem Sinne? Heutzutage gibt es Interviews, Lesungen, um das Werk eines Autors bekannt zu machen und der Leserschaft näher zu bringen, Fragen darf man dort im Anschluss stellen – früher gab es insbesondere literarische Salons; nahm sie an solchen Zusammenkünften teil? Hätte sie mit Freude teilgenommen und ihre zwei Erzählbände vorgestellt? Hätte ich ihr dann meine Fragen stellen dürfen?

ABSCHLIESSENDE FRAGEN: Muss ich auf alle diese Fragen eine Antwort finden? Oder reicht es, wenn ich sie nur aufschreibe, ausdrucke und aufhänge? Soll ich dann jedes Mal, wenn ich daran vorbeilaufe, eine Frage rauspicken und sie – so gut es geht – mir selbst beantworten? Es ist gut, dass wir fragen können. Denn wie sonst sollten wir lernen (außer durch Fehler)? Gibt es wirklich keine dummen Fragen, wie meine Lehrer von früher lautstark behaupteten? Ist Unwissen nicht manchmal besser? Wird es langweilig, wenn wir alles wissen? Oder ergeben sich immer wieder aufs Neue Fragen, wie es bei mir der Fall gewesen ist? Wird unser Hunger nach Wissen irgendwann gesättigt sein? Ist Wissen wirklich Macht? Ich weiß, dass ich nichts weiß?

Text 2

 

ANTWORTEN IN STICHWORTEN

– Geboren wurde sie im Februar 1778 in Rochlitz. Sie ist Autorin und Dichterin. Eine Künstlerin, die nicht viel von sich preisgibt.

– Die „Romanthischen Blüten“ sind eine Aneinanderreihung von Erzählungen, die zusammenhangslos erscheinen.

– Sie verbunden dafür Verse mit Prosa.

– Es geht um Gefühle wie die Liebe und Sehnsucht. Um das, was diese auszeichnet.

– Schreiben war ihre Leidenschaft.

– Das Arbeiten mit der Sprache an erfunden Geschichten hat sie zumindest zeitweilig die schweren gesellschaftlichen Umstände vergessen lassen.

– Die Namen von Schiller und Novalis fallen in einer biographischen Notiz. Beide begleiteten und inspirierten ihr Schreiben.

– Brachmann wurde nicht in großen Auflagen verlegt.

– Die „Romantischen Blüten“ scheinen mir zeitlos.

– Es geht um mehr als nur um Liebe: um Menschlichkeit.

– Hier wurden die zwei Bände in verkleinerter Form in Schwarz-weiß auf Filmmaterial gedruckt. Ein Medium in einem Medium. Mehr zu Mikroform/Mikrofiche

– Ich fühle mich so, als würde ich mir alte Fotos ansehen, deren Details ich jedoch nur mit diesem speziellen Lesegerät erkennen kann. Sie erzählen alle eine Geschichte, auch durch das Material ihrer Überlieferung.

– Sollten die Bücher irgendwann zerfallen, gäbe es immer noch diese konservierte Gestalt.

– Die Frakturschrift, auch „gebrochene Schrift“, wirkt altertümlich und zieht mich in die Vergangenheit, die mit jedem Jahrhundert, das vergeht, in weitere Ferne rückt. Und doch gibt es Überbleibsel wie dieses Objekt, die mich immer noch mit dieser Vergangenheit verbinden.

– Die Titel in diesem Buch wecken meine Neugierde. Gern hätte ich jeden davon gelesen. Eines der Titel, welcher mir im Gedächtnis geblieben ist: „Menschlichkeit“. Die Erzählung handelt von einer Brautwerbung. Am Ende gewinnt derjenige der beiden Konkurrenten das Herz der Dame, welcher selbst ein reines Herz besitzt. Statt Auge um Auge, Zahn um Zahn: Herz um Herz.

– Die „Romanthischen Blüten“ scheinen mir zerbrechlich wie eine Blüte, obgleich Bücher wie dieses einst fest und robust in der Hand lagen. Romantisch klingt für mich der Gedanke, dass an sich nichts für die Ewigkeit hält und somit noch kostbarer ist. Und doch hört der Mensch nicht auf, nach Möglichkeiten zu suchen, um das Gegenteil zu beweisen.

– Louise Brachmann wollte allen beweisen, dass sie eine Literatin ist. So wundert es mich am Ende nur, dass jemand, der hier als „von edler Begeisterung eines wahrhaft poetischen Gemüthes durchglühtes Wesen“ bezeichnet wird, keinen Eingang in den Kanon gefunden hat wie Novalis oder Schiller.

– Die Erzählung  „Die Künstlerin“ hat mich besonders fasziniert.

– Eine Künstlerin kann verschiedene Bereiche abdecken: Schriftstellerin, Malerin, Dichterin, … So gehört auch Brachmann, wie ich finde, in diese Kategorie, wenngleich sie dem literarischen Kanon nicht angehört. Ich habe gehofft, mit dieser Erzählung dem Wesen der Autorin etwas näher zu kommen.

– Es geht um die Liebe zweier Menschen, die auch im Bund der Ehe keine Fesseln zulässt.

– Es war etwas schwierig, mit dieser Druckschrift klarzukommen. Meistens aber las ich die Sätze flüssig, als wären sie mir bereits in Schreibschrift vertraut gewesen. Dann gibt es auch Stellen, die wenig leserlich gedruckt sind, wo ich mich mehr anstrengen musste. Augen enger zukneifen, mit dem Kopf näher an den milchigen Monitor des Lesegerätes. Da las ich langsamer und konnte dadurch doch noch etwas mitnehmen.

– Brachmann nutzt manchmal bildhafte Vergleiche, über die ich länger nachdenken musste. Formulierungen, die in ihrer Bedeutung nicht sofort klar sind, finden Gefallen bei mir. Den eigenen Kopf anzuregen und sich einzulassen auf neue Möglichkeiten des Beschreibens – dies ist bei Brachmann möglich.

– Es ist ein vielstimmiger Text, eine Erzählung in einer Erzählung. Die Ich-Erzählerin erzählt einem nicht definierten Publikum (wobei zu spekulieren ist, ob sie den Leser, mich, direkt anspricht), wie sie mit ihrer Dienerschaft einen Unfall mit dem Wagen hat und nun alle zusammen zu Fuß die Reise fortsetzen müssen. In einem Städtlein finden sie Obdach bei einer verheirateten Frau namens Josephe, mit zwei bildhübschen Kindern. Die Ich-Erzählerin und die Künstlerin freunden sich miteinander an. Nachdem sie das selbstgemalte Porträt vom Ehemann mit Erstaunen gesehen hat, erzählt Josephe von den Anfängen ihrer Bekanntschaft mit jenem Mann und wie ihre Liebe einige Hindernisse zu bewältigen hatte.

– So wie die Künstlerin von ihr beschrieben wird, so wird auch Brachmann selbst in ähnlicher Weise in der biographischen Notiz dargestellt. So beschreibt die Ich-Erzählerin, wie sie „immer mehr über die Gewandtheit ihres Geistes und über die Zartheit und Tiefe ihres Gefühles“ staunt.

– Hin und wieder wird von den Pflichten der Frau gesprochen, die die Künstlerin beinah vernachlässigt hätte, auf ihrer eigenen Suche nach Ruhm und Anerkennung. Doch ist es am Ende die Liebe zu ihrem Mann, die für sie ihr ganzes Glück darstellt. Jedoch wirkt dies nicht so, als wäre sie nur für ihn geboren. Als stünde sie weit unter ihm. Wohl eher scheinen sie sich auf Augenhöhe zu begegnen.

– Die Liebe wird hier durch Aufopferungsbereitschaft und Selbstlosigkeit definiert. Und die Bereitschaft, sich gegenseitig Freiheiten zu geben. Während er seiner Leidenschaft der Wanderung nachgeht, widmet sie sich ihremkünstlerischen Schaffen, mit dem sie ihr Brot für die Familie verdient.

– Josephe trägt ein Sonett vor, das von der Liebe handelt, mit der wir alle geboren werden. Und es ist Egoismus, der uns die angeborene Liebe vergessen lässt. Doch irgendwann wird die Einsamkeit zur Qual. Und dieser Schmerz vermag uns mit dem Partner zu verbinden. Nach dem Sprichwort: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

– Josephe wurde eines Tages gewahr, dass die Kunst allein ihr nicht ausreichte. Sie verdiente so manches Geld damit, doch auf Dauer machte sie das nicht glücklich. Immer mehr zog sie es zu ihm. In der Zwischenzeit wurde ihrem Mann im Kriege der Arm verstümmelt. Als sie ihn so nach langer Distanz wiedersah, wurde ihre Liebe zu ihm durch Mitleid besonders gestärkt. Mitleid heißt hier wortwörtlich, mit dem Partner zu leiden.

– Die Erzählung endet mit der Erzählung von Josephe. Im letzten Moment kommt der Ehemann nach Hause und die Ich-Erzählerin nimmt teil an der Vereinigung der kleinen Familie. Sie beschreibt diese bilderbuchhafte Erfahrung als einen Eintritt in das „Heiligtum der Liebe.“

– Offen bleibt für mich am Ende diese Frage: Was hätte passieren/verhindert/erreicht werden müssen, damit sie von vielen Menschen bis heute gelesen wird?

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