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Hölderlin für Kinder

Welche Fragen stellen Kinder zu Hölderlin? Welche würden wir stellen, wenn wir noch Kind wären? X

 

Gern können Sie oder könnt Ihr uns Fragen schicken (e-Mail: museum@dla-marbach.de). Die ersten Fragen, die wir hier beantworten, sind uns bei Führungen durch das Schiller-Nationalmuseum und im Literaturmuseum der Moderne gestellt worden.

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1. Wieso sind diese Gedichte so schwer zu verstehen? Was kann man damit anfangen?

 

Hölderlins Gedichte verlangen, dass man sich ganz auf sie einlässt: Sie laut spricht und sich vorstellt, welche Welt jeweils dahinter steckt. Und noch mehr als das: Sich auch auf das einlässt, was fremd darin ist und auf alle Fälle schon ein wenig eigen und seltsam.

Ein Beispiel dafür, mit dem ihr das ausprobieren könnt: Hölderlins „Hälfte des Lebens“. Wie kann das Land in den See hängen, dazu noch mit Rosen und Birnen? Habt ihr eine Idee, was Hölderlin hier beschreibt? Überlegt mal ein bisschen. Wann seht ihr das Land im See?

Ihr habt es sicherlich erraten: Hölderlin beschreibt eine Spiegelung im Wasser. Rosen und Birnen stehen nicht nur am Ufer und hängen über dem Wasser, sie wiederholen sich auch darin. Ebenso wie die Schwäne, die darin schwimmen, die Köpfe hinein tauchen und direkt angesprochen werden: „Ihr tunkt das Haupt ins Wasser“.

Wenn ihr schon einmal ein Schwanenpaar beobachtet habt, so wisst ihr auch, was Hölderlin damit meint, dass sie sich küssen: Schwäne, die sich mit den Schnäbeln berühren, bilden durch ihre besondere Halsform oft ein Herz.

 

Könnt ihr auf diese Weise auch den Rest des Gedichts in Bilder übersetzen?

2. Warum verwenden Gedichte solche „Bilder"?

 

Wenn es euch hilft, so versucht die einzelnen Bilder, die das Gedicht in euch auslöst, zu zeichnen. Wem das schwer fällt: Sprecht es einige Male laut und achtet darauf, wie zwischen den beiden Gedichthälften die Temperatur wechselt: von warm nach kalt. Wie helfen bei diesem Temperaturwechsel die Buchstaben und ihre Klänge, auch die Satzzeichen und Versgrenzen?

Hölderlin versucht dichtend etwas zu durchdenken und zu verstehen und zugleich so in Worte zu fassen, dass er und wir es immer wieder aufs Neue als Bild und Erfahrung heraufbeschwören können.

Habt ihr auch solche Geschichten, die ihr euch immer wieder erzählt? Und wenn ja: Spielt ihr auch damit, dass sie sich dann unterschiedlich erzählen lassen und ein wenig anders ablaufen können und auch unterschiedliche Bedeutungen annehmen? So etwas macht auch Hölderlin. Er beschreibt zwei Szenen: eine im Spätsommer mit Rosen, Birnen und Schwänen und eine im Winter mit Frost und klirrenden Fahnen. Dann werden durch den Titel zwei Hälften eines Lebens daraus: Jugend und Alter. Geborgenheit und Einsamkeit.

 

Die ersten Skizzen für dieses Gedicht machte sich Hölderlin zum Jahreswechsel 1800/1801, kurz bevor er seine Heimat Nürtingen verlässt, um eine Stelle als Hauslehrer in der Schweiz anzutreten.

3. Wieso schwimmen in Hölderlins „Hälfte des Lebens" ausgerechnet Schwäne auf dem See?

 

Da Hölderlin viel gelesen hat und sich besonders gut auch in der altgriechischen und lateinischen Dichtung auskannte, besitzt der Schwan bei ihm verschiedene Bedeutungen. Als der Gott Apoll, der für die Künste zuständig war, geboren wurde, flogen Schwäne durch die Luft. Besonders Dichter werden daher gern mit Schwänen verglichen. Auch für die Verwandlung und für die Liebe stehen die Schwäne in der Antike.

Hölderlins Gedicht besitzt also mehrere Ebenen: Es beschreibt verschiedene Szenen und gibt ihnen dann eine Bedeutung für uns Menschen. Wir können, wenn wir möchten, im Gedicht in der Natur eigene Gefühle und Lebensverhältnisse erkennen und auf diese Weise noch einmal anders darüber nachdenken.

Was machen wir zum Beispiel im Winter, um die Erinnerung an den Sommer nicht zu verlieren? Wie gehen wir damit um, wenn ein Freund fortgezogen ist und nicht mehr da ist?

Oder auch, wenn ihr zum Beispiel gern schreibt oder malt oder musiziert: Was braucht ihr, damit ihr das gut machen könnt?

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4. Wie machte Hölderlin seine Gedichte?

 

Hölderlin arbeitete an seinen Gedichten intensiv. Das könnt ihr an seinen Manuskripten sehen, aber auch hören. Hanns Zischler liest hier „Hälfte des Lebens“ und zwei der ersten Skizzen für dieses Gedicht.

 

Noch ein Lesetipp für „Hälfte des Lebens“: ein Wort kommt darin nur einmal vor – findet Ihr es? Welche Wörter fallen euch ein, die so zusammengesetzt sind wie die, die wir in Hölderlins Gedichten gefunden haben?

 

Da wir in den Literaturmuseen solche Wörter sammeln, die aus anderen Wörtern zusammengesetzt sind und die es vielleicht auch überhaupt nur einmal in der Welt gibt, könnt ihr uns eure schönsten zusammengesetzten Wörter auch schicken.

Die zusammengesetzten Wörter heißen übrigens ,Komposita‘ und die, die es nur einmal in einem Text gibt, ,Hapax legomena‘ (,nur einmal Gesagtes‘).

Foto: DLA Marbach

5. Was weiß man über den jungen Hölderlin und seine Familie?

 

(Johann Christian) Friedrich Hölderlin wurde am 20, März in Lauffen am Neckar geboren – als erstes Kind von Johanna Christiana und Heinrich Friedrich Hölderlin, der in Diensten des württembergischen Herzogs das Klostergut in Lauffen verwaltete. Hölderlins Eltern seht ihr oben. Als Hölderlin zwei Jahre alt ist, stirbt der Vater an einem Schlaganfall, die Mutter ist mit dem dritten Kind schwanger. Sie heiratet  zwei Jahre später wieder, den Schreiber Johann Christoph Gok. Hölderlin und seine Familie ziehen nach Nürtingen.

Von den vielen Geschwistern werden neben Hölderlin nur zwei das Erwachsenenalter erreichen: die Schwester Heinrike, genannt ,Rike‘, und der Halbbruder Carl. Sein erstes erhaltenes Gedicht hat er mit 14 Jahren geschrieben. Der Titel: „M[einem] G[ott]“. Der erste Vers:  „Herr! was bist du, was Menschenkinder?“ Ein Jahr zuvor war Hölderlins fünfjährige Schwester Friedrike an Scharlach gestorben, der Stiefvater 1779.

Mit sechs kam Hölderlin in die Schule und lernte neben Latein und Griechisch auch Flöte- und Klavierspielen. Mit 14 kam er aufs Internat, in die Klosterschulen in Maulbronn und Denkendorf. Mit 18 zog er nach Tübingen, um Theologie zu studieren.

 

Foto (Ausschnitt): DLA Marbach

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Der Briefschluss:

„[…] So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, konnt‘ ich es gar nicht mehr zusammenhalten. Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit.“

6. Waren Schiller und Hölderlin befreundet?

 

Friedrich Hölderlin bewunderte den elf Jahre älteren, erfolgreichen Schriftsteller Friedrich Schiller als Vorbild und macht ihn früh zum Fixstern seiner Literatur. Mit 15 imitierte er Schillers „Räuber“-Ton: „Sieh! er lauscht, schnaubend Tod – / Ringsum schnarchet der Hauf, / Des Mordes Hauf, er hörts, er hörts, im Traume hört‘ ers, / Ich irre, Würger, schlafe, schlafe.“

1793 begegneten sich die beiden persönlich in Ludwigsburg: Schiller half dem frisch gebackenen Tübinger Theologen Hölderlin statt Pfarrer Hauslehrer zu werden. Er schickte ihn zu seiner Freundin Charlotte von Kalb nach Jena: „Ich glaube, daß Ihnen sein Aeußeres sehr wohl gefallen wird. Auch zeigt er vielen Anstand und Artigkeit“. 

Was so gut anfing, kippte jedoch bald: Der Hauslehrerposten ist schwieriger als erwartet, Hölderlins Schüler schwer zu erziehen und auch das Verhältnis zwischen Hölderlin und Schiller ist angespannt. Hölderlin bewunderte Schiller maßlos, Schiller allerdings beurteilte dessen Gedichte skeptisch – auch weil sie ihn an seine eigenen erinnern.

„Es ist mir oft, wie einem Exulanten“, schrieb Hölderlin an Schiller: „Ich glaube, daß diß das Eigentum der seltnen Menschen ist, daß sie geben können, ohne zu empfangen, daß sie sich auch ‚am Eise wärmen‘ können. Ich fühle nur zu oft, daß ich eben kein seltner Mensch bin. Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgiebt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich.“

Als der ohnehin nur spärlich schreibende Schiller, den solche Briefe eher bedrängt haben dürften, zwei Jahre lang Hölderlin auf seine Briefe gar nicht mehr antwortete, endete die ungleiche Beziehung.

 

Könnt ihr Hölderlins Brief, den Hölderlin 1797 an Schiller schickte entziffern? Eine kleine Lesehilfe findet ihr hinter dem Kreuzchen.

 

Foto (Ausschnitt): WLB Stuttgart [Württembergische Landesbibliothek, Hölderlin-Archiv, Stuttgarter Foliobuch, Cod.poet.et.phil.fol.63,I,6, 52/53].

7. Wieso soll man bei Gedichten das Versmaß herausfinden? Wozu ist das wichtig?

 

Gedichte sind eine besondere Textform. Das sieht man ihnen auf den ersten Blick an: am freien Platz um sie herum. Aber man merkt es auch daran, wie sie mit Sprache umgehen. Die Sätze laufen nicht einfach geradeaus von links nach rechts. Da gibt es Ecken und Kanten (die Vers-Ränder) und eine Art Raum, den diese abstecken, wodurch alles, was darin steht, eine besondere Bedeutung erhält.

In traditionellen Gedichten wird dieser Innenraum durch Wiederholungen geprägt. Zum Beispiel können sich Formulierungen wiederholen und Klänge, Wörter und eben ein bestimmter Sprachtakt, zum Beispiel viele kurze Wörter: „habe kalte halbe Tage“. Oder auch längere, die dann nicht so einfach nur zwischen einer deutlich betonten Silbe und einer kaum hörbaren (,e‘) wechseln. Etwa: „Fliegende Federbälle verfehlen.“

Auf diese Weise verwandeln sich die Wörter in einem Gedicht in einen bestimmten Ton, in so etwas wie eine eigene Stimme. Reizvoll wird diese Stimme eines Gedichts gerade dann, wo sie nicht ganz perfekt in ein Versmaß passt, sondern sich daran reibt und in der Schwebe bleibt – als ob sie bricht, haucht oder eben singt.

Das Versmaß ist also zum einen so etwas wie der Herzschlag und der Atem des Gedichts, zum anderen so etwas wie sein Spielfeld: Es liegt dem Gedicht zugrunde. Hölderlin zum Beispiel hat auf dem Manuskriptausschnitt oben mit Strichen und Bögen ein antikes Versmaß aufgezeichnet.

 

In seltenen Fällen (zum Beispiel bei Christian Morgensterns „Fisches Nachtgesang“) kann das Versmaß dann auch schon ein Gedicht sein. Es ist vergleichbar mit einem digitalen Code, einem Programm, und besteht wie dieser Code aus einem ganz einfachen System: 0 und 1 oder eben unbetont und betont.

Wenn euch diese ,Mathematik‘ eines Gedichts interessiert – so sieht der Anfang von „Hälfte des Lebens“ aus, wenn man ihn in den binären Code einer Lochkarte übersetzt.

Mit einer virtuellen Lochkartentastatur könnt ihr auch eure eigenen Texte codieren.

8. Wie findet man das Versmaß eines Gedichts heraus?

 

Die Stimme eines Gedichts könnt ihr entdecken, indem ihr zuerst versucht, den Text überdeutlich zu leiern und ihn dann so zu sprechen, wie es euch natürlich scheint.

Beim Leiern macht ihr ganz von alleine das, was man machen muss, um ein Versmaß herauszufinden: ihr zerteilt Wörter in Silben, also in die Laute, die ihr zusammen aussprecht, und betont sie dann beim Sprechen unterschiedlich. Bei manchen Silben geht deine Stimme hoch und du sprichst sie lauter aus (das sind dann die betonten Silben oder die sogenannten ,Hebungen‘), bei anderen senkst du die Stimme und wirst leiser (das sind die Unbetonten oder die ,Senkungen‘).

Wenn euch das Gedicht als Ganzes endlos erscheint: Versucht es mit einzelnen Wörtern. Welche Silbe betont ihr zum Beispiel bei euren Lieblingswörtern?

Ob ihr richtig liegt, könnt ihr prüfen, indem ihr eine andere Silbe betont. Wenn es sich dann schief anhört, ist es die Falsche. Also zum Beispiel „FrühLING“ statt „FRÜHling“ oder „EssEN“ statt „ESSen“. Die betonten Silben tragen oft auch die Bedeutung eines Worts.

Foto: DLA Marbach

9. Weswegen schreiben Menschen Gedichte?

 

Gegenfrage an euch: Warum schreibt ihr (auch wenn es keine Schulaufgabe ist) etwas auf, malt ein Bild, macht Musik, dreht ein Video, programmiert ein Computerspiel oder versucht etwas für euch herauszufinden?

 

Drei Antwortvorschläge von uns: Warum machen wir Gedichte?

1. Wir schreiben etwas auf, weil wir es so besser begreifen können. Wir müssen es genauer und mit mehr Zeit durchdenken und in unserer Phantasie erfahren und erleben. So ist für uns dann vielleicht durch dieses In-Sprache-Fassen etwas in der Welt, was sonst nicht da wäre. Gedichte sind also Erfahrungs- und Denkräume, Innehaltepunkte, Dreh- und Wendeplätze.

2. Wenn wir beim Schreiben dann noch in einer bestimmten Form schreiben und mit dieser Form arbeiten, also zum Beispiel nach Reimwörtern suchen oder in Silben denken, so ist das wie eine Batterie für uns: uns fällt mehr und anderes ein. Und wir vergessen die Welt um uns herum und oft auch uns selbst. Gedichte sind also auch Selbstverwandlungsmaschinen und Kreativitätsmotoren.

3. Gedichte sind Freundschafts-Geschenke. Sie machen eine Gabe persönlicher und wertvoller. Oft sprechen wir in Gedichten ja jemanden an (auch ganz abstrakt: den Mond oder die Natur etwa. Die Stimme in Hölderlins „Hälfte des Lebens“ spricht die Schwäne an). Dass wir in Gedichten auch mit Tieren oder Erscheinungen oder Dingen sprechen können, liegt daran, dass sie uns in die Gegenwart versetzen: Sie konzentrieren uns auf einen Augenblick. So scheint die Welt, auf die sie verweisen ganz nah. Mit Gedichten lässt sich also prima etwas oder jemand ,zumindest in der Phantasie, herbeizaubern.

Foto: DLA Marbach

 

Daher haben wir zwei andere Geschenke aus Hölderlins Nachlass als Bild für diese Frage gewählt: eine gerahmte Haarlocke von Hölderlin sowie das Freundschaftsband, das vermutlich 1804 anlässlich der Hochzeit von Hölderlins geliebter Cousine Eberhardine Blöst mit Hölderlins Bruder Carl Gock von den Geschwistern angefertigt worden ist (Henriette/Heinrike ist die Schwester von Hölderlin, Louis der Bruder von Eberhardine).

Solche Freundschaftsbänder haben einen besonderen Bund zwischen Menschen geschaffen, indem man sie um mehrere übereinander gelegte Hände wickeln konnte. Danach haben sie an diesen Bund auch erinnert. Auch Haarlocken schenkte man sich, um aneinander zu denken und voneinander etwas zu haben, was bleibt. Ihr kennt so etwas vielleicht von den heutigen Freundschaftsbändern oder auch von der Blutsbrüderschaft, wie sie Winnetou und Old Shatterhand schließen.

Auch Gedichte können dafür sorgen, dass wir etwas oder jemanden nicht mehr vergessen.

 

Das glaubt ihr nicht? Weil euch Gedichte einfach nicht gefallen? Dann sucht so lange, bis ihr doch eines findet, das euch nicht mehr aus dem Kopf geht. Manchmal braucht es Jahre, bis man eines dieser Gedicht gefunden hat. Aber: Es kann funktionieren!

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