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Ost-West

Schon gegen Ende des Zweiten Weltkrieges trat eine neue Weltordnung hervor, welche die internationale Politik für die nächsten Jahrzehnte prägen sollte: Die Konfrontation zwischen einem stalinistisch-kommunistischen und einem kapitalistisch-demokratischen Block unter der Vorherrschaft von Sowjetunion und USA sorgte für die Teilung Deutschlands in verschiedene Besatzungszonen, welche schließlich 1949 zur Gründung zweier Staaten, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen sowie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Osten führte.

Die massenhafte Abwanderung bedrohte die DDR existenziell, zumal überdurchschnittlich viele junge und gut ausgebildete Menschen den Staat verließen. Mit Rückendeckung der sowjetischen Führung begannen in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 Volksarmisten, Volkspolizisten und Angehörige der Kampftruppen der DDR, die Grenze rings um West-Berlin mit Stacheldraht und bewaffneten Kräften abzusichern. Die „Berliner Mauer“ wurde zum Symbol der Teilung Deutschlands und Europas.

Gibt es diese ,Mauer‘ auch in den Beständen eines Literaturarchivs? Und: Wie unterscheiden sich literarische Texte und ihre Erscheinungsbilder, wie unterscheiden sich Lektürekanon und Lese-Erfahrungen und wie werden diese Differenzen reflektiert?

Foto: DLA Marbach

Ein Ausweis – zwei Systeme: PEN-Ausweis von Stephan Hermlin

„P.E.N.“ steht für: Poets (Dichter), Essayists (Essayisten), Novelists (Romanautoren). Ein ‚pen‘ oder ‚Stift‘ ist zugleich das älteste Werkzeug aller Schreibenden. Der P.E.N. wurde 1921 in England als literarischer Freundeskreis gegründet. Mit diesem Ansteckschildchen wies sich der DDR-Literat Stephan Hermlin auf dem 30. Kongress des Internationalen P.E.N. 1959 in Frankfurt am Main als Teilnehmer aus.

Foto: DLA Marbach

Siegfried Unseld bietet Klaus Gysi vom Aufbau-Verlag Johnsons "Zwei Ansichten" an (1.9.1965)

ausgewählt und kommentiert von Katja Leuchtenberger

Uwe Johnson galt als „Dichter der beiden Deutschland“ – ein Etikett, gegen das er sich zeitlebens wehrte, schon allein, weil seine Bücher nur in der BRD verlegt wurden. In der DDR, die er 1959 verlassen hatte, waren sie nicht erwünscht. Suhrkamp-Verleger Unseld versuchte dies zu ändern. 1965 bot er Johnsons neues Buch über das geteilte Berlin zur Zeit des Mauerbaus dem Aufbau-Verlag in Ost-Berlin an. Er bezog sich auf ein Gespräch mit Alexander Abusch, der als Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR zuständig war für Kultur und Erziehung. Doch der Versuch verpuffte, eine Auswahl aus Johnsons Werk erschien in der DDR erst 1989.

Foto: DLA Marbach

Drei Neuerscheinungen aus West- und Ost-Verlagen 1981–89

Kurz vor dem Ende der DDR wird der deutsch-deutsche Literaturmarkt, der stets von Zensur begleitet war, etwas offener. Die beiden „Laden“-Teile von Erwin Strittmatter (1983, 87) gehen einbändig von Ost nach West (1989); Botho Strauß’ „Der junge Mann“ (1984) nimmt die umgekehrte Richtung (1987), Stefan Heyms „Ahasver“ (1981 im Westen) kommt erst 1988 ins Land seines Autors. Was nun hüben und drüben zu lesen ist, ist zwar dasselbe, nicht aber das Gleiche: Die West-Ausgaben gehen offensichtlich großzügiger mit dem Papier um und sind deutlich umfangreicher.

Foto: DLA Marbach

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Noch mehr Beispiele für Erscheinungsbilder-Wechsel: Christoph Heins „Tangospieler“ (1989: Aufbau, Ost, links, und Luchterhand, West, rechts) / Patrick Süskinds „Das Parfum“ (Diogenes, links, West: 1985, Volk und Welt, Ost: 1987)

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Christa Wolfs „Kassandra“ 1983 – Aufbau, Ost (unten) bringt Erzählung und Vorlesung in einem Band heraus, Luchterhand (oben) macht zunächst zwei Bücher daraus:

West-Ost-Wechsel – Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“

Kunze ist Parteifunktionär, Hinze sein Chauffeur. Nach den Spielregeln des Sozialismus sollten sie gleich sein, doch genau das sind sie offenkundig nicht. Volker Braun nimmt am Beispiel des ungleichen Paares (das er 1973 schon einmal für die Bühne und 1983 in Kurzprosa bearbeitet hatte) das Verhältnis von Herr und Knecht im ‚realen Sozialismus‘ unter die Lupe. 1984 wird der Roman von den DDR-Kulturoberen noch unter Verschluss gehalten, 1985 darf er dann in Ost und West gleichzeitig erscheinen. Auch hier sind die Erscheinungsbilder deutlich anders.

Foto: DLA Marbach

Ost- und Westausgaben von Volker Brauns „Langsamer Knirschender Morgen“ (1987)

Volker Braun wird in der DDR sowohl streng zensiert als auch bereitwillig exportiert, seine Gedichte erscheinen von Beginn an sowohl beim Mitteldeutschen Verlag im Osten als auch bei Suhrkamp im Westen. Im Falle seines Gedichtbandes „Langsamer knirschender Morgen“ erscheinen die Ost- und Westausgaben fast zeitgleich im Jahr 1987, allerdings sind die Ausgaben nur fast identisch: Das Gedicht „Die Konsolidierung“ wird in der ostdeutschen Ausgabe mit dem Gedicht „Tagtraum“ ersetzt, das letzte Wort der Zeile „Geht mir aus der Sonne, ihr Mächtigen“ im Gedicht „Die Trümmer der Akademie“ wird gestrichen.

Foto: DLA Marbach

Leselücken – Max Frisch 1961 an Stephan Hermlin

Wenn Max Frisch seine mangelnde Kenntnis des Zweigschen Werkes ganz ausdrücklich persönlich begründet, weiß er, welche ,falschen Schlüsse‘ zu verhindern sind: Der in der DDR viel gelesene und geehrte Arnold Zweig wird im Westen weitgehend ignoriert, vor allem, weil er ein wichtiger öffentlicher Repräsentant der DDR ist (u.a. Volkskammer-Abgeordneter sowie Ehren-Präsident der Akademie der Künste Ost und des PEN-Zentrums), dessen 75. Geburtstag 1962 offiziell gefeiert wird.

Foto: DLA Marbach

Geographiestunde mit Stephan Hermlin: DDR-Literatur als Weltliteratur – Stephan Hermlin 1960 an den Luchterhand Verlag

1960 versucht der Schriftsteller und DDR-Flüchtling Peter Jokostra beim westdeutschen Luchterhand Verlag die Anthologie „Mitteldeutsche Lyrik“ herauszugeben, die allerdings nie erscheinen wird. Der Grund dafür ist der Titel, an dem auch Stephan Hermlin als „Dichter aus dem anderen Deutschland“ Kritik übt. Das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik sei keineswegs mit dem „vagen geographischen Begriff ‚Mitteldeutschland‘“ identisch: „Jedermann, der sich mit zeitgenössischer deutscher Lyrik beschäftigt, ob er in Paris oder Rom, Moskau oder Peking sitzt, und sei es selbst in Darmstadt, weiss sehr wohl, dass ich kein mitteldeutscher, sondern ein deutscher Lyriker bin“.

Nach dem Mauerbau erscheinen beim Luchterhand Verlag im Laufe der 1960er- und 70er-Jahre zahlreiche Bücher von Schriftsteller:innen wie Jurek Becker, Christoph Hein, Hermann Kant, Irmtraud Morgner und Christa Wolf. Der Verlag etabliert sich so zu einem der wichtigsten westdeutschen Lizenzverlage für Literatur aus der DDR.

Foto: DLA Marbach

Reime auf den Staat – Wolf Biermanns „Drahtharfe“

Damit das Versmaß stimmt, macht Biermann im Handexemplar seines ersten Gedichtbandes (überliefert im Vorlass von Eugeniusz Wachowiak) aus der „Volkspolizei“ die „Volkespolizei“, die in der DDR für Ordnung „wie bei den sieben Zwergen“ sorgt. Das Buch erscheint 1965 im Westen und bringt Biermann, der 1953 von Hamburg aus in die DDR übergesiedelt war, ein Auftritts- und Veröffentlichungsverbot ein. Nach elf Jahren Berufsverbot entzieht die DDR ihm am 16. November 1976 die Staatsbürgerschaft.

Foto: DLA Marbach

Bildpolitik – Erich Loest 1976 an Walter Janka

Als Erich Honecker 1971 Walter Ulbricht als Staatschef der DDR ablöst, scheint sich die Kulturpolitik zu öffnen und auf eine bisher ungekannte Vielfalt zu setzen. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 macht dann jede Hoffnung auf Liberalisierung zunichte. Sie zieht eine ganze Kette von Sanktionen gegen Schriftsteller:innen nach sich und wird zu einer Zäsur in der DDR-Literaturgeschichte. Klaus Staeck, der die DDR schon 1956 verließ, stellt die kulturpolitische Situation grafisch dar. Erich Loest, der 1981 in den Westen übersiedeln wird, wählt eine der bei Steidl in Göttingen verlegten Postkarten („der nächste Sommer kommt bestimmt“), die er an Walter Janka schickt.

Janka nahm 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teil, wo er den späteren Stasi-Chef Erich Mielke kennenlernte. Über Casablanca ging er 1941 nach Mexiko, wo er u.a. den Exilverlag „El libro libre“ (‚Das freie Buch‘) leitete. 1947 kehrte er nach Deutschland zurück, wurde 1950 Leiter des Aufbau-Verlags, 1956 wegen „konterrevolutionären Verschwörungen“ verhaftet und 1960 aufgrund internationaler Proteste freigelassen. 1975 sorgte er als Dramaturg bei der DEFA für die einzige Verfilmung eines Thomas-Mann-Romans in der DDR: „Lotte in Weimar“ (mit dem Weltstar Lilli Palmer in der Hautprolle).

Foto: DLA Marbach

Nomen est omen – „Der Weg nach Oobliadooh“ von Fritz Rudolf Fries (1966)

Damit der erste Roman von Fritz Rudolf Fries im Westen erscheinen kann, muss diese Druckfahne von Mittelsmännern durch die Berliner Mauer geschmuggelt werden. Nach der Veröffentlichung 1966 bei Suhrkamp verliert Fries seine Stelle an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin. In der DDR wird die Geschichte der Republikflüchtlinge Paasch und Arlecq, die, vom Westen enttäuscht, ihre Rückkehr in die DDR als Entführungsopfer inszenieren, erst 1989 gedruckt.

Foto: DLA Marbach

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Lieber Czecho,
ich wünschte von Dir zu hören oder Dich in B.[erlin] zu sehen; am 31. d. M. liest der Haase (den Du neulich beschimpft hast) über Abrakadabra; vielleicht, wir nehmen ihn in die Zange.
Maurer, wie ich erfuhr, ist krank, und bitte Dich, ihm was Tröstliches zu schreiben.
Hier ist Mitternacht; kein Nikotin; ein Gast im Haus, der gelegentlich zu charakterisieren sein wird.
Jentzsch lässt grüßen.
In Hamburg fiel mir die Westgesellschaft wieder 1 Mal auf den Wecker. Kein Mensch begreift, daß unsereiner für Goethe wirklich sich interessiert.
Herzlich! K.
24.5.68

Lyrik aus dem "besseren Lande" – Karl Mickel 1968 an Heinz Czechowski

Zur „Sächsischen Dichterschule“, die in den 1960er-Jahren die DDR-Lyrik stark prägt und sich in den 1970ern auflöst, gehören Karl Mickel, Heinz Czechowski, Volker Braun, Bernd Jentzsch, Richard Leising sowie Sarah und Rainer Kirsch. 1966 gibt Mickel mit Adolf Endler die Anthologie „In diesem besseren Lande“ heraus, die eine „andere“ sozialistische Lyrik zeigen soll als die „volksliedartige Johannes-R.-Becher-Kunst“.

Gerade diese Lyrik wird stark kritisiert von Horst Haase (damals Professor für deutsche Literaturgeschichte in Leipzig), den Mickel, wie er in seinem Brief an Czechowski am 24. Mai 1968 schreibt, „in die Zange“ nehmen will. Auch die „Westgesellschaft“ geht ihm „auf den Wecker“: „Kein Mensch begreift, daß unsereiner für Goethe wirklich sich interessiert.“

Foto: DLA Marbach

Zensurfall BRD – "Wie alles anfing" von Michael Baumann

ausgewählt und kommentiert von Jérôme Seeburger

Der im Grundgesetz formulierte Anspruch, dass eine Zensur nicht stattfindet, hat sich wie ein Schleier über die Wirklichkeit des Zensursystems der BRD gelegt. Ein Zensurfall, der auch international für Aufsehen sorgte, betraf das Buch „Wie alles anfing“ von Michael „Bommi“ Baumann, das 1975 im Münchner Trikont-Verlag erschien. Darin schildert Baumann, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als ehemaliges Mitglied der terroristischen Bewegung 2. Juni wegen versuchten Mordes gesucht wurde und im Untergrund lebte, seinen Weg zum bewaffneten Kampf und nimmt dazu kritisch Stellung.

Die Staatsanwaltschaft München beschlagnahmte im selben Jahr das Buch und eröffnete ein Verfahren gegen die beiden Geschäftsführer:innen des Verlags, Gisela Erler und Herbert Röttgen, wegen Verherrlichung und Billigung von Straftaten. Über 300 Verlage, Buchhandlungen und individuelle Unterstützer:innen trotzten 1976 dem Verbot, indem sie gemeinsam das Buch wieder herausgaben. Im Zuge des Rechtsstreits über mehrere Instanzen wurde das Verbot mehrmals aufgehoben und wieder in Kraft gesetzt bis es 1978 endgültig kassiert wurde. Heinrich Bölls Unterstützung reichte sogar bis in den Gerichtssaal, wo seine Rezension des Buches aus der Zeitschrift „konkret“ von den Strafverteidiger:innen Jürgen Arnold und Roswitha Wolff verlesen wurde.

Foto: DLA Marbach

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und beste Grüße, entschuldigt die Förmlichkeit, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Herzlich Eure Christa  

Christa Wolf  

 

November 1989 – Christa Wolf an Günter und Rosemarie de Bruyn

„Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht“, schreibt Wolf 17 Tage nach Öffnung der DDR-Grenzen an ihre Freunde, das Schriftstellerehepaar de Bruyn, denen sie den Aufruf „Für unser Land“ schickt. Obwohl sie skeptisch ist, übernimmt sie die Endredaktion; dabei streicht sie das Wort „Sozialismus“ mehrfach heraus und lässt nur einmal die „sozialistische Initiative“ stehen – auf die sie später festgenagelt wird. Vor allem das starre Entweder-Oder von „Eigenständigkeit der DDR“ und „Ausverkauf unserer Werte“ erregt bei ihr Anstoß.

Foto: Margit Tabel-Gerster. Mit Dank für die freundliche Genehmigung an Margit Tabel-Gerster und die Familie Hermlin.

Autorenporträt als Zeitzeugnis des Systemwechsels: Ein Ost-Berliner Autor erfährt in Hamburg vom Mauerfall

ausgewählt und kommentiert von Katharina Hertfelder

Am Abend des 9. November 1989 nimmt der Ost-Berliner Autor Stephan Hermlin an einem Podiumsgespräch im Literaturhaus Hamburg teil. Zusammen mit dem Germanisten Hans Mayer, der 1963 die DDR verlassen hat, soll er dort „über Geschichte und Gegenwart der beiden deutschen Literaturen“ diskutieren. Berichten zufolge bestreitet Hermlin in Hamburg, dass es eine Zweiteilung der Literatur gebe. Was am darauffolgenden Morgen hingegen zur unbestreitbaren Tatsache geworden ist, weiß er an diesem Abend noch nicht: Nur wenige Stunden nach dem Gespräch wird in Berlin die Mauer fallen und das Ende der politischen Teilung Deutschlands eingeleitet.

Die Fotografin Margit Tabel-Gerster, die die beiden Diskutanten im Auftrag des Wochenmagazins Stern im Literaturhaus fotografiert, hat in Eigenregie einen Fototermin mit Stephan Hermlin für den 10. November 1989 vereinbart. Auch sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie am nächsten Morgen den fassungslosen Beobachter eines Systemwechsels vor ihrer Linse haben wird. In einem Zimmer im Hotel Reichshof in Hamburg trifft sie Stephan Hermlin, der zusammen mit seiner Frau Irina Belokonewa-Hermlin die Fernsehberichterstattung über den Mauerfall verfolgt und gleichzeitig Telefonate führt.

Foto: DLA Marbach
Mit freundlicher Genehmigung des Merlin Verlags, Gifkendorf 2021

De Sade unerwünscht – Zum deutsch-deutschen Verlagswesen während der Wende

ausgewählt und kommentiert von Kristin Engelhardt

„Lieber Karlheinz, somit können wir den Sargdeckel über unseren Sade schließen“, schreibt die Lektorin des Reclam Verlags, Helgard Rost, in einer Notiz an den Romanisten und Leiter des Bereichs „Theorie und Methodologie“ am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL), Karlheinz Barck. Der Sargdeckel schließt sich in diesem Fall über der geplanten Ausgabe des Werkes „Justine ou les Malheurs de la vertu“ des französischen Autors Donatien Alphonse François, Marquis de Sade.

Die Publikation in der DDR scheiterte indes nicht an der Aversion der kulturpolitischen Instanzen der DDR gegenüber avantgardistischen und dekadenten Werken, sondern aufgrund der Ablehnung durch einen westdeutschen Verlag, die aus der ‚Kollision‘ zweier Buchmärkte nach dem Mauerfall 1989 resultierte. Vor allem aber verkomplizierte die Frage der Lizenzrechte eines plötzlich deutsch-deutschen und dennoch systemisch divergierenden Buchmarkts Veröffentlichungen, wie etwa die geplante De Sade-Ausgabe von Barck und Rost.

Die Absage des westdeutschen Merlin Verlags, mit dem der Reclam Verlag sich zwecks einer Publikation in der DDR im Austausch befand, ist eindeutig. Eine Parallelausgabe kam für den hamburgischen Merlin Verlag nicht in Frage, da bereits eine dreibändige Ausgabe der Werke des Marquis de Sade in den 1960er-Jahren erschienen war und eine Neuauflage der „Justine“ im April 1990 herausgegeben wurde. Im gleichen Jahr veröffentlichte auch der westdeutsche Insel Verlag den Roman „Justine oder die Leiden der Tugend“ und der französische Verlag Gallimard publizierte die Werke De Sades erstmalig in der „Bibliothèque de la Pléiade“.

Foto: DLA Marbach

Die Verleger als Bastler – Heidi Paris 1989 an Karlheinz Barck und Stefan Richter

ausgewählt und kommentiert von Lydia Schmuck

„Der Verleger ist Bastler, nicht Ingenieur“, schreibt Heidi Paris am 28.01.1989 an die Mitherausgeber der geplanten Textanthologie „Aisthesis“, Karlheinz Barck und Stefan Richter. Sie bezieht sich dabei offenbar auf Claude Lévy-Strauss, der in „La pensée sauvage“ den ‚Bricoleur‘ vom ‚Ingenieur‘ abgrenzt als zwei Vorgehensweisen zur Erkenntnis: Während sich der Ingenieur zur Lösung neuer Aufgaben auf die Suche nach neuen Mitteln konzentriert und daraus fertige Neukonstruktionen liefert, ist der Bricoleur auf die Aufgabe fokussiert und versucht, diese durch spontanes, ungerichtetes ‚Werkeln‘ mit den vorhandenen Mitteln („moyens du bord“) zu lösen. Demnach besteht die Aufgabe des Verlegers nicht darin, mit seinen Textausgaben fertige Gedankengebäude, fertige Wahrheiten zu liefern, sondern vielmehr darin, die vorhandenen Ideen und Konzepte als Fragmente neu zu kombinieren und zu kontrastieren, in einen neuen Kontext zu stellen und so das Lesepublikum zu eigenen Denkwegen anzuregen.

Damit zeigt sich die Verwurzelung von Paris’ Metapher des Verlegers als Bastler in den 1968er-Ideen. Neben der implizierten Kritik an Ganzheitserzählungen sowie am Fortschrittsglauben wird dadurch die von Michel Foucault und Roland Barthes eingebrachte Fokus-Verschiebung vom Autor hin zum Text auf den Verleger übertragen: Wie der Autor tritt auch der Verleger hinter seinem Text zurück, liefert keine umfassenden Erklärungen in Vor- und Nachwörtern und erklärt dadurch die Leser:innen für mündig. Die Tatsache, dass mit der Textanthologie die Essays v.a. französischer Autor:innen aus den Jahren 1967–1988 (u.a. Foucault und Barthes) erstmals in Ostdeutschland publiziert werden sollten, zeigt den revolutionären Charakter des Publikationsprojekts, der allerdings durch die politischen Ereignisse im Herbst 1989 konterkariert wurde. Die Anthologie erschien 1990 mit dem Titel „Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais“. Der Briefwechsel der Herausgeber:innen zwischen Ost- und West-Berlin aus den Jahren 1988/89 wurde im Anhang „Statt eines Nachwortes“ abgedruckt.

Foto: DLA Marbach

Gewandelte statt gewendete Wissenschaft: Karlheinz Barck zur deutschen Wissenschaftsunion nach 1989

ausgewählt und kommentiert von Lydia Schmuck

„Gewendete Wissenschaft?“ fragt Barck im Titel seines zwischen 1990 und 1992 verfassten Textes und richtet damit kritisch den Fokus auf die Vorstellung, eine deutsche Wissenschaftsunion könne dadurch erreicht werden, dass die DDR-Wissenschaft einfach „gewendet“ werde. Mit dieser Vorstellung, die auf der Annahme fußt, die DDR-Wissenschaft sei eine homogene Landschaft gewesen, werde die 40-jährige Geschichte der Wissenschaft in der DDR einfach unterschlagen. Vielmehr müsse die Wende als Möglichkeit begriffen werden, sich von den Folgelasten des Zweiten Weltkrieges zu befreien, indem sich die Wissenschaftler:innen in Ost und West der gemeinsamen Verantwortung für die Geschichte und damit auch für die Wissenschaftsgeschichte stellen. Statt auf ideologisch „gewendete“ sollte auf Wissenschaftler:innen gesetzt werden, die durch eine kritische Position gegenüber der politischen Macht „gewandelt“ seien. Der Text ist als Intervention zu verstehen: Er entstand im Kontext der insgesamt 4-jährigen Übergangszeit vom Zentralinstitut für Literatur­geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL), an dem Barck Mitarbeiter war, zum Zentrum für Literaturforschung (ZfL) in Berlin.

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wurde die Wissenschaftsgeschichte zwischen Ost- und West-Deutschland bisher kaum systematisch in den Blick genommen.

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