Ein Themenalphabet von A wie „(Erfundene) Autoren“ bis Z wie „Zensierte Texte“ ergänzt in der Ausstellung den offenen Forschungsraum. Noch ist unsere Sammlung unvollständig.
… Nachwort – Nächte – Pingpong – Prokommunistisch – Querlesen – Reihen – Schreibweise – Schriftstellerkongress – Story – Systemimmanent – Telefon – Titel – Wanderer zwischen den Welten – Waschzettel – Weltfremd – Weltliteratur – Wendezeit – Zahlen – Zeichen und Zeichenwechsel – Zensur.
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Foto: DLA Marbach
N wie Nachwort
ausgewählt und kommentiert von Paweł Zajas
Im Literaturbetrieb der DDR war das Nachwort eine besondere Textsorte. Aus der Perspektive der Zensurbehörde sollte es die jeweils bevorzugten Lesarten der veröffentlichten literarischen Werke sichern. Dies galt vor allem für die schrittweise Veröffentlichung der von der DDR-Editionspolitik lange ausgesparten „spätbürgerlichen“ Autoren. Je breiter das Erschließungsprogramm der modernen Literatur in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde, desto höher waren die Anforderungen an die marxistische Kommentierung und Interpretation. Nachworte zu kulturpolitisch abweichenden Texten hatten vor allem die Funktion, den Zensoren und Kritikern Brücken zu bauen; sie waren eine Art Inszenierung und eine Absicherung sowohl des Romans wie auch der Funktionsträger, die für seine Herausgabe verantwortlich waren.
Hier zeigt das Beispiel des Nachwortes für „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ von James Joyce, dass man zu diesem Zweck sogar wissentlich Fehlinterpretationen vorlegte. Für diese schulmeisterliche und ideologisierte Poetik des Nachwortes zeigte Siegfried Unseld als Lizenzgeber aber wenig Verständnis und wollte erstmals, wie früher bei den Lizenzen für Werke von Max Frisch, T.S. Eliot oder Samuel Beckett, das Erscheinen des Nachwortes (und somit auch des Buches) untersagen. In diesem Fall zeigte sich der Verleger letztendlich kompromissbereit: „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ erschien 1979 im Verlag Volk und Welt samt dem von Unseld beanstandeten Nachwort von Joachim Krehayn.
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Teilnehmerliste des ersten Lateinamerikakolloquiums in Berlin 1962, DLA Marbach
P wie prokommunistisch? Das Lateinamerikakolloquium 1962 in Berlin
ausgewählt und kommentiert von Griselda Mársico (Buenos Aires):
Im September 1962 fand in Berlin das Erste Kolloquium lateinamerikanischer und deutscher Schriftsteller statt. Das Kolloquium in Berlin stellt – in den Worten des „Merkur“-Herausgebers Hans Paeschke das erste „dieser Art nach dem Krieg“ – eine Art offizielle Wiederaufnahme der kulturellen Beziehungen mit Lateinamerika dar, zumal hinter der als Organisatorin firmierenden Zeitschrift „Humboldt“ die Lateinamerika-Abteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung stand.
Der gedruckten Teilnehmerliste sieht man nicht an, dass sie Ergebnis längerer Verhandlungen war, bei denen nicht nur Geschmacksfragen sowie die persönlichen bzw. institutionellen Kontakte, über die die Organisatoren verfügten, eine Rolle spielten, sondern auch politische und ideologische Kriterien. Es dürfte kein Zufall sein, dass unter den lateinamerikanischen Ländern gerade Kuba – drei Jahre nach der Revolution – nicht vertreten ist. In einem Brief an Hans Paeschke vom 7. April 1962 beschwert sich Rafael Gutiérrez Girardot – damals Geschäftsträger der Kolumbianischen Botschaft in Bonn – über die Schwierigkeiten, seine Kriterien bei der Aufstellung der Gäste-Liste durchzusetzen. Die von ihm vorgeschlagene Liste sei „als ‚prokommunistisch‘ […] angesehen“ worden, und das, obwohl er, eine Ablehnung ahnend, die Namen des Chilenen Pablo Neruda und des Kubaners Nicolás Guillén schon von vornherein ausgeschlossen habe. „Aber daß man Asturias, Borges (!!!!!) u. a. m. ‚prokommunistisch‘ nennt[,] ist ja die Höhe der Dummheit“, beklagt sich der Diplomat.
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R wie Reihen: William Shakespeare: Die tragische Geschichte von Hamlet, Prinzen von Daenemark. Mit Korrekturen von Gerhart Hauptmann.
Bücher formieren sich oft über Jahre hinweg zu Reihen – wie z. B. die gelben Reclam-Hefte. Ein Buch wie diese von Hauptmann übersetzte, von Edward Gordon Craig illustrierte, von historischen Quellen begleitete Hamlet-Ausgabe erinnert an die Bücher, die der Insel Verlag Anfang des Jahrhunderts in der Cranach-Presse von Harry Graf Kessler hat drucken lassen: Großzügig und zweifarbig gesetzt. Mit dem 1. Weltkrieg wird dann das Papier knapp, die Buchaustattung bescheiden.
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S wie Schreibweise: Rowohlts Rotations-Romane
Wer mit einem Stempel die korrekte Schreibweise seines Künstlernamens sichert, hat ihn vermutlich schon öfter falsch gelesen. Der Schriftsteller und Kabarettkünstler Sándor Friedrich Rosenfeld will jedenfalls sicher gehen – vielleicht, weil er selbst den Namen erst anders benutzte, nämlich als „Roda & Roda“ zusammen mit seiner Schwester? 25 Jahre nach dem Erscheinen von Roda Rodas Autobiographie „Roda Rodas Roman“ kreierte Heinrich Ledig Rowohlt in Anlehnung an diesen Titel den Namen für die erste Taschenbuchreihe Deutschlands: Rowohlts-Rotations-Romane, kurz: rororo.
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S wie Schriftstellerkongress: Karl Mickels Delegiertenausweis für den VIII. Schriftstellerkongress der DDR, 1978
Anderthalb Jahre nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann ist der VIII. Schriftstellerkongress der DDR im Mai 1978 in jeder Hinsicht durchorganisiert – von der Einladungsliste über den Parkplatz zur Wortmeldung (der Delegiertenausweis und das Teilnehmerheft stammen aus dem Nachlass von Karl Mickel). Der regimeloyale Hermann Kant wird als Nachfolger von Anna Seghers zum Präsidenten gewählt, viele Autoren werden gar nicht erst eingeladen.
Zwei Jahre später geht der Schriftstellerverband noch weiter und schließt kritische Autoren wie Kurt Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Rolf Schneider und Joachim Seyppel aus.
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S wie Story: Rowohlts „story"
Das Format, das Rowohlt der „story“ in ihrem vierten Jahr gibt, ist ein Vorbote des „rororo Taschenbuchs“, das 1950 den Buchmarkt revolutioniert. Inzwischen druckt „story“ auch Geschichten deutscher Autoren, die in hoher Zahl entstehen: Mit komprimierter Tiefe, einfachem Stil und unprätentiöser Sprache trifft die Form der Kurzgeschichte das Bedürfnis der Zeit und wird ‚das‘ Genre der deutschen Nachkriegsjahre.
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… Ich hoffe, Deine Démarche hat Erfolg, aber ich möchte bemerken, dass man in seinem solchen Falle genau überlegen sollte, an wen man schreibt und wie man schreibt. Man sollte einen Staatschef, wenn man ihm zu schreiben sich schon entschliesst, mit seinem exakten Titel anreden, und der lautet „Vorsitzender des Staatsrats“ und nicht „Staatsratsvorsitzender“. Man sollte den Brief auch links oben mit seiner Adresse versehen, wie das bei jedem herkömmlichen Geschäftsbrief üblich ist, und schliesslich sollte man den Brief so abfassen, dass möglichst der Eindruck vermieden wird, als würfe man gewissermassen den Brief dem Adressaten ins Gesicht. Niemand verlangt von Dir, dass Du dem Genossen H. einen Liebesbrief schreibst oder die Anrede- und Schlussfloskeln eines Fürstenbriefes aus dem 18. Jahrhundert gebrauchst, aber ich sehe immer wieder, wie ein bestimmter Takt und eine bestimmte Haltung verloren gehen in einer Zeit, die ich nicht liebe. Im übrigen möchte man ja etwas von dem s{a}nderen, hofft man, ihn für etwas zu gewinnen … Deine beiliegende Karte enthält gleich zu Anfang die seltsame Formulierung „wie auch immer Freundschaften sich lockern“. Tun sie das? Ich möchte nicht daran glauben, habe auch von mir aus nie etwas gelockert, aber Du sagst es, und so muss es wohl stimmen. Denn es ist wohl wieder einmal so weit, dass es nicht gut ist mit einem „Stalinisten“ meiner Art umzugehen – ich kann es im „Stern“ und anderswo lesen und hören und sehen. Ein paar dubiose Gestalten können mich nach Belieben schmähen, und jene, die ich Freunde nannte – und zwar mit Recht, weil ich mich niemals anders denn als Freund betrug – sehen stumm zu und teilen mir beziehungsvoll mit, Freundschaften lockerten sich. In der Tat, eine famose Zeit. Mit bestem Gruss Stephan H.
S wie systemimmanent: Stephan Hermlin 1982 an Erich Honecker
Der Briefschreiber zwischen allen Stühlen: Ein in den Westen emigrierter Freund (Günter Kunert) will kritisch an den Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Erich Honecker schreiben. Mit diesem steht Stephan Hermlin ebenfalls in freundschaftlicher Beziehung. Vorsichtig tastend wird ausgelotet, in welchem Zustand sich die Beziehung befindet und ob der zu erwartenden Kritik am System durch den Freund zumindest mit dem Einhalten der formalen Kriterien für einen Brief ein wenig im voraus die Schärfe genommen werden könnte. Wie vermeidet man in der Gattung ‚Brief‘ und dem System ‚DDR’ den Eindruck, „man würfe gewissermaßen dem Brief dem Adressaten ins Gesicht?“
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W wie Wanderer zwischen den Welten: Exemplar der „Blechtrommel", 1961 von Günter Grass Hans Mayer mit einer Zeichnung gewidmet
Günter Grass widmete dem Leipziger Literaturprofessor Hans Mayer 1961 ein Exemplar seiner „Blechtrommel“ mit einem selbst gezeichneten Ritter in der Blechrüstung – seine öffentlich in der Vorlesung überbrachten Grüße von Uwe Johnson, der im Erscheinungsjahr der „Blechtrommel“ 1959 von Ost- nach Westberlin gewechselt war, sorgten für einen Tumult.
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Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
W wie Wendezeit: Günter Kunert 1991 an Fritz Rudolf Fries
Günter Kunert (1929–2019), der 1979 aus der DDR in die BRD ausreisen durfte, setzt seiner Katze eine West-Mickey Mouse vor, als er Fritz Rudolf Fries (1935–2019) in der von Stasi-Enthüllungen geprägten Nachwendezeit nach den Mitautoren einer geplanten Anthologie fragt. Die Anthologie erschien nie. Dass Fries der Stasi (vor allem von seinen Auslandsreisen) berichtet hat, weiß Kunert am 2. März 1991 noch nicht, als er den Brief schreibt.
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W wie Wendezeit: Hermann Kant 1989 an Stephan Hermlin
Wenige Monate vor dem Fall der Mauer geht im Ostseebad Prerow auf dem Darss alles seinen sozialistischen Gang: „Im FDGB-Heim haben wir einen reservierten Essensplatz, da wir als kinderreich gelten“, schreibt die Familie Kant im Juli 1989 an die daheimgebliebenen Freunde Hermlin in Berlin.
Auf der Postkarte kleben Briefmarken mit dem berühmtberüchtigten dogmatischen Kulturfunktionär Alfred Kurella (1895–1975): „Du siehst, lieber Stephan, es gibt Leute, denen man nicht entkommen kann.“
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W wie Wendezeit: Karlheinz Barcks Logbuch
Ausgewählt und kommentiert von Petra Boden
Als Karlheinz Barck 1984 am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL) seine Idee für ein Projekt „Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe“ zur Diskussion stellte, wusste er noch nicht, wohin die Reise geht. Er wusste nur, dass die moderne ästhetische Praxis im weitesten Sinn nicht mehr mit den Begriffen der herkömmlichen Theorie zu beschreiben war. Die einzelnen Etappen der großen Fahrt hielt Barck in seinem Logbuch fest, so 1989/1990 auch die möglichen und nötigen Kooperationsbeziehungen zwischen Ost und West. Die Route, die er und seine Mitherausgeber mit Kolleg:innen an den Universitäten Siegen und Konstanz schließlich aushandelten, führte zu einem internationalen Großprojekt, das die positive Evaluierung des Zentralinstituts garantierte und zum wichtigsten Kapital des späteren Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin werden konnte. Auf dem Weg dahin schlugen manche Wellen hoch und es mussten etliche Wenden vollzogen werden.
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Z wie Zeichen- und Zeitenwechsel: Siegfried Unseld 1965 an Mao Tse-Tung
„Da ich in Europa von der kulturellen Entwicklung Ihres Landes kaum Ahnung habe, möchte ich Sie um Rat fragen.“ 1965 wendet sich Siegfried Unseld an den Vorsitzenden der Volksrepublik China, Mao Tse-Tung: „Hiermit möchte ich Sie bitten, einerseits um die Genehmigung für die Übersetzung und Veröffentlichung Ihrer Gedichte […], andererseits um einen Überblick darüber, welche Autoren und Werke momentan in Ihrem Land gelesen werden.“ In lateinischen Buchstaben listet er die Autoren des Suhrkamp–Programms auf, darunter „marxistische Theoretiker wie Ernst Bloch und Bertolt Brecht“.
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Z wie Zensur: Christa Wolf: „Nachdenken über Christa T."
Diese Reflexion über das Leben in der DDR fällt so kritisch aus, dass sie in die Mühlen der DDR-Zensur gerät: Die Druckgenehmigung wird erst nach Änderungen erteilt, die Herstellung des Buches wird unterbrochen, der Mitteldeutsche Verlag liefert nur eine Teilauflage aus. Als Marcel Reich-Ranicki in der ZEIT schreibt „Christa T. stirbt an der Leukämie, aber sie leidet an der DDR“, wird die Auslieferung in der DDR ganz gestoppt. Erst 1972 erscheint eine zweite (auf 1968 rückdatierte) DDR-Ausgabe.
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