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Sammeln. Hölderlin Wort für Wort lesen

Im Dezember 1803 stellt der 33-jährige Hölderlin neun Gedichte zu einem Zyklus zusammen, den er Nachtgesänge nennt und der im September 1804 veröffentlicht wird. Darunter ist auch „Hälfte des Lebens“ – das Gedicht, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts in die „Zeit des Irrsinns“ eingeordnet wurde und inzwischen Hölderlins meist interpretiertes und übersetztes Gedicht ist. Mit Titel besteht es aus 61 Wörtern, 289 Zeichen, 277 Buchstaben, davon 31 Großbuchstaben, 11 Satzzeichen, 46 Leerzeichen, 14 Zeilenumbrüchen, 88 Silben.

Die Besucher:innen der Ausstellung können 36 dieser Gedicht-Wörter samt einer kleinen Hölderlin’schen Wortgeschichte X in der Ausstellung einsammeln und mitnehmen (Online-Blättern).

Neun dieser Wörter stellen wir hier vor.

 

Die Grundlage für diese Hölderlin’schen „Wortgeschichten“:

Wir haben alle in der Stuttgarter Ausgabe von Friedrich Beißner erfassten 424 Gedichte inklusive Plänen, Bruchstücken, Stammbuchblättern und zweifelhaften Zuschreibungen mit dem Computer durchsucht.

Die Ergebnisse sind Näherungen und keine absoluten Zahlenwerte: Viele Gedichte, die Hölderlin nach 1805 schrieb, sind nicht erhalten; Beißners Edition verzeichnet weniger Gedichte als die Frankfurter Ausgabe von Dietrich E. Sattler; bei der Texterfassung kann es wie bei der Texterkennung zu Fehlern kommen; bei der Suche nach Wortstämmen erkennt man Wörter nicht, die zur Wortfamilie gehören, aber den Stamm nicht verwenden (z.B. sprechen – gesprochen, gold – gülden), und man findet Wörter, die gleich lauten, aber inhaltlich unterschiedlich sind (z.B. die Farbe Gold und das Edelmetall Gold), wobei in der poetischen Sprache oft gerade die Assoziationen zwischen diesen Wörtern unsere Vorstellung prägen (Ovids nach dem Edelmetall bezeichnetes „Goldenes Zeitalter“ wird z.B. mit „goldenem Licht“ assoziiert) und der Reiz der Metaphern in der gleichzeitigen Präsenz beider Bedeutungen liegt (wird z.B. der „Schwan“ als Bild für den Dichter verwendet, so ist er in unserer Phantasie dennoch auch ein Schwan).

Fünfmal wird bei Hölderlin mehr als ein Kuss geschenkt, zweimal davon sind es „Götterküsse“. 17-mal ist der Kuss einmalig, z.B. als „Mutterkuss“, „mütterlicher Kuss“, „Bruderkuss“, „Engelskuss“ und „schöpferischer Kuss“.

Das zusammengesetzte Wort ‚heilignüchtern‘ ist eines von Hölderlins einmaligen Wörtern. Eine Variante nutzt er im Fragment „Deutscher Gesang“: „Wenn über dem Haupt die Ulme säuselt, / Am kühlatmenden Bache der deutsche Dichter / Und singt, wenn er des heiligen nüchternen Wassers/ Genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille, / Den Seelengesang.“

‚Nüchtern‘ setzt Hölderlin ansonsten nur zweimal ein (als „nüchternes Lied“ und „allzu nüchternes Reich“), ‚heilig‘ dagegen 207-mal, auch in Kombination: „heiligjugendlich“, „heiligliebend“, „heiligvermählt“, „heiligkühn“, „heiligtrunken“, „heiliggesetzt“, „Unheiliges“, „Heiligschönes“, „Heiligtrauerndes“ und „Heiligfreies“. ‚Heilig‘ sind unter anderem die Dichter, die Nacht, das Mondlicht, das Grün, die Alpen, die Wolken, der Schlaf, die Bäume, die Erde, der Schatten, das Chaos, der Frieden, das Wort, Namen und Zahlen.

54-mal haben bei Hölderlin Menschen und Dinge diese Eigenschaft, sind „hold“, „Holdes“, „Holde“, „Holdin“ oder „Holder“. Es liegt nahe, darin eine Anspielung auf ,Hölderlin‘ zu lesen. Ein Zweig Holder, der alte Name für Holunder, schmückt das Wappen der Hölderlins, der ,kleinen Holunder‘.

Der Holunder selbst kommt dreimal explizit in Hölderlins Gedichten vor, zum Beispiel hier: „Aber drüben am See, wo die Ulme das alternde Hoftor / Übergrünt und den Zaun wilder Holunder umblüht, / Da empfängt mich das Haus und des Gartens heimliches Dunkel, / Wo mit den Pflanzen mich einst liebend mein Vater erzog, / Wo ich froh, wie das Eichhorn, spielt auf den lispelnden Ästen, / Oder ins duftende Heu träumend die Stirne verbarg.“

Schwäne lässt Hölderlin sparsam auftauchen und meist nur als Metapher: des „Liebchens Schwanenarm“ und „Schwanenlied“. Einmal gleitet ein Schwan übers Wasser: „Der Stern der Liebe schien, / Wenn alle Lüfte schliefen, / Und, sanft bewegt vom Schwan“. Im Plural tauchen die Schwäne neben „Hälfte des Lebens“ noch dreimal auf: „wie Schwanen der Schiffe Gang und das Leiden irrend“, „zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne“, „Aber wir, unschädlich gesellt, wie die friedlichen Schwäne,/ Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt, / Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich spiegeln, / Und das himmlische Blau unter den Schiffenden wallt, / So auf Erden wandelten wir.“

Weitere Vögel, Insekten, Fische, Tiere und Fabelwesen bei Hölderlin: Uhu, Kauz, Huhn, Wolf, Käferlein, Skorpion, Eichhorn und Schmetterling (je 1), Eule, Geier, Delphin, Stier, Forelle und Pferd (je 2), Rabe, Falke, Affe, Reh, Hahn mit Hahnenschrei und Drache mit Drachenzähnen (je 3), Lerche, Wurm und Tiger (je 4, davon einmal „Tigergrimm“), Lämmer und Biene (je 5), Hirsch (7, davon ein „Hirschheer“), Schwalbe (9, „Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter“), Löwe (10, davon 6-mal im übertragen Sinn: „Löwengebrüll“, „löwenstolz“, „Löwenkraft“, „Löwenhaut“, „löwenkühn“, „Löwengrimm“), Aar (10) und Adler (31, davon je einmal „Adlerschwung“, „Adlersblick“, „Adlerflug“), Nachtigall (11), Schlange (12, darunter je einmal „Schlangengift“ und „Schlangengezisch“ und je zweimal „Schlangenhöhle“ und „Schlangenzunge“), Roß (21), sowie allgemein Tier (12, davon je einmal „Tierskampf“, „tiergleich“ und „Tiergeist“), Fische (2), Vogel (14) und Vögel (15). Dreimal findet sich ein Tier sogar im Gedichttitel: „An die Nachtigall“ (1786), „Der Adler“ (1803) und „Die Schlange“ (1803).

Die Farbe gelb erscheint bei Hölderlin nur in vier Gedichten. Andere Farben (das Wort ‚Farbe‘ gibt es dreimal, ‚farbig‘ einmal, ‚bunt‘ fünfmal): weiß (fünfmal als Adjektiv, davon je einmal ‚weißblühend‘ und ’schneeweiß‘, zweimal substantiviert), rot (4) und rötlich (9, davon zweimal ‚morgenrötlich‘ und dreimal ‚abendrötlich‘), braun (6), grau (18, davon dreimal ’silbergrau‘), purpur (zwölfmal als Adjektiv, zweimal substantiviert und je einmal ‚Purpurmund‘, ‚Purpurwange‘, ‚Purpurschein‘), blau (siebzehnmal als Adjektiv, siebenmal substantiviert, zweimal als Verb ‚blauen‘, einmal ‚blaugewürgt‘), silber (neunzehnmal als Adjektiv, fünfmal als Zeichen des Alters in Komposita wie ‚Silberlocken‘, ‚Silberhaare‘, ‚Silbergreise‘, je einmal ‚Silberton‘, ‚Silbergefäß‘, ‚Silberquell‘, ‚Silberblüten‘, ‚Silberwelle‘, ‚Silberwolken‘, ‚Silberpappeln‘), schwarz (28), grün (32-mal als Adjektiv, zweimal ‚immergrün‘, 36-mal als Verb ‚grünen‘, davon je einmal ‚umgrünen‘ und ‚frischaufgrünend‘, zweimal ‚übergrünen‘, 22-mal als Substantiv: ‚das Grün‘), gold (89-mal als Adjektiv, einmal substantiviert, zweimal ‚vergoldet‘, je einmal ‚goldgelockt‘, ‚Goldgewölk‘, ‚goldglänzend‘, ‚goldenklingend‘, ‚Goldrot‘).

Birnen gibt es bei Hölderlin nur in „Hälfte des Lebens“. Ebenso nur einmal gibt es in seinen Gedichten: Apfel und Äpfel, Feige, Limonenwald, Birnbaumblätter, Nußbaum, Erdbeerhain, Pomeranze und Pomeranzenwälder. Zweimal: Granatbaum, Holunderbaum und Erdbeerstrauß. Dreimal: Obstbaum und Pfirsich. Viermal: Kirschbaum und Feigenbaum. Fünfmal: Beere und Obst. Elfmal: Weinstock. 15-mal: Traube. 26-mal: Wein. 38-mal: Frucht und Früchte. 110-mal ist etwas süß, zweimal süßlich und nur ein einziges Mal sauer (der Sauerklee).

37-mal blühen, glühen, stechen, kränzen, umwehen bei Hölderlin Rosen: wild und still, herrlich und jung,
süß und dornig, als Frühlingsrosen, Moosrosen, Rosenstrauch, Rosenhecke und Rosenpfad. Zweimal färben sie als Wangenrose das Gesicht, zweimal tauchen sie die Welt in mildes bzw. holdes Rosenlicht. Zehnmal gibt es Dornen, sie bilden Dornengänge, Dornenpfade, eine Dornenbahn und ein Dornenbett.

Der Sonnenschein wärmt oder wirft seine Schatten bei Hölderlin insgesamt siebenmal: „Wie aber Liebes? Sonnenschein/ Am Boden sehen wir und trockenen Staub / Und heimatlich die Schatten der Wälder und es blühet/ An Dächern der Rauch, bei alter Krone / Der Türme, friedsam; gut sind nämlich / Hat gegenredend die Seele / Ein Himmlisches verwundet, die Tageszeichen.“

Die Himmelskörper und ihre Auswirkungen allgemein: Sonne (113), Stern und Sterne (67), Gestirn (21), Mond (18) sowie Tag (310), Licht (148), Nacht (134), hell (65), trüb (37), Dunkel und dunkel (34), Dämmerung (12), düster (5).

Keine Worte findet jemand oder etwas bei Hölderlin nur noch an einer weiteren Stelle: „Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt / Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist / Im Menschenwort, am schönen Tage / Wieder mit Namen, wie einst, sich nennet.“ Einmal kommt es zur „Sprachverwirrung“. Dreimal ist etwas unaussprechlich. 61-mal schweigen Menschen oder Dinge.

Dagegen: ’singen‘ mit ’sang‘ und ‚gesungen‘ (108), ‚Gesang‘ (105) und ‚Sang‘ (12, mit „Titanensang“, „Abendsang“, „Schlummersang“, „Jubelsang“), ‚Lied‘ (82), ’sagen‘ (74), ’sprechen‘ mit ‚gesprochen‘, ’sprach‘  und ‚versprechen‘ (69), ‚tönen‘ (38) und ‚Töne‘ (24, darunter „Friedenstöne“,“ Jubeltöne“, „Zephirstöne“, „Himmelstöne“, „Schmeicheltöne“), ‚Ton‘ (11, darunter „Sirenenton“, „Mutterton“, „Silberton“, „Flötenton“) und „Getöne“ (3), ‚Laut‘ (30, davon siebenmal „Wohllaut“), ‚Zeichen‘ (27), ’schreiben‘ und ‚geschrieben‘ (25), ‚Sprache‘ (21), ‚hauchen‘ mit ‚Hauch‘ (19, darunter „Liebeshauch“, „Lebenshauch“, „Nachthauch“, „Pesthauch“), ’säuseln‘ (18) mit „Maigesäusel“ (1), ‚Rede‘ (18) und ‚reden‘ (22), ‚Schrift‘ (12), ‚flüstern‘ mit ‚Geflüster‘ (9, „Mitternachtsgeflüster“, „Haingeflüster“) und ‚lispeln‘ (7), ’schreien‘ (6) und ’stammeln‘ (5).

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