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Systemwechsel als Sprachwechsel

Wer zwischen politischen Systemen wechselt, muss häufig auch die Sprache wechseln. Selbst die Muttersprache kann dann zur Fremdsprache werden, weil die vertrauten Wörter ihre Bedeutung ändern oder nicht mehr erlaubt sind.

 

 

Foto: DLA Marbach

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Vorgestern {12.} nacht, Contrescarpe der junge PC-Mann, der den linken Nationalsozialismus verteidigte Gestern, 13., bei der Manifestation, die „ironischerweise“ zum Hitlergruß ausgestreckten Arme hinter der roten schwarzen Fahne –

[AM RAND] außerdem: Neben dem Trotzki-Portr. im Hof der Sorbonne: CRS=SS (SS in Runenschrift)

Belastete Wörter – Paul Celans Entwurf „Der Runige“ im Mai 1968

Im Nachlass von Paul Celan finden sich zahlreiche Spuren des Sprachenlernens, -entdeckens und -erfindens, die Länder- und Systemwechsel begleiten. Der „Runige“ ist eine poetische Neuschöpfung Paul Celans, abgeleitet aus der ‚Rune‘, dem Wort für die alten germanischen Schriftzeichen, die zur Wortmarke von Hitlers ‚Schutzstaffel‘ SS wurden. Celan, der rechtsradikale Symbole genau wahrnimmt, notiert seine Beobachtungen während der Pariser Studentenunruhen im Mai 1968 auf dem Typoskript: „Neben dem Trotzki-Portr. im Hof der Sorbonne: CRS=SS (SS in Runenschrift)“. CRS steht für die Französische Polizei „Compagnies Républicaines de Sécurité“.

Foto: DLA Marbach

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Zum Raum von Marica Bodrožić und Deniz Utlu:

https://www.dichterlesen.net/unterhaltungen-deutscher-eingewanderten:

Sprachbild „Muttersprache“ – Projektraum „Unterhaltungen deutscher Eingewanderten“

In einem Hörraum auf dichterlesen.net gehen Marica Bodrožić und Deniz Utlu der Frage nach, wie sich Erfahrungen von Migration und Flucht in der deutschen Literatur widerspiegeln. Beide haben die Tonarchive in Berlin, Marbach und Basel gesichtet und auf Grundlage unzähliger Stimmen, z.B. von Paul Celan, Ruth Klüger, Hilde Domin oder Elias Canetti, einen jeweils eigenen audiovisuellen Onlineparcours kreiert. Sie reflektieren in diesen, ob eine sogenannte ,Migrationsliteratur‘ überhaupt existiert und hinterfragen Sprachbilder wie „Heimat“, „Muttersprache“ oder „Identität“.

Foto: DLA Marbach

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Die Flüche im Typoskript: Mistkrücken / Dreckdampfer / Stinktiere /  Saubatzen / Bettscheißer / Arschkriecher / Windbeutel / Stumpfzähne / Tagediebe / Lümmel / Maultaschen / Saufnickel / Prahlhänse / Taugenischtse / Flegel / Rotzer / Laffen / Deppen / Freßbälge / Vogelscheuchen / Bärenhäuter / Pinsel / Glatzköpfe / Kaulquappen / Galgenvögel / Hornochsen / Raubritter / Halsabschneider / Lumpen / Erzgauner / Ausbeuter / Mannsbilder.

Schimpfwörterübung – Irmtraud Morgners Skizze für ein Kapitel in „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz“ (1974)

Irmtraud Morgners 1974 veröffentlichter Roman ist nicht nur ein „kühner Schritt nach vorn auf dem Weg zur Selbstfindung der Frau, eine Infragestellung männlich geprägter Normen in der Literatur und offensive Einbringung von ‚Weiblichkeit‘“ (Alice Schwarzer). Er kostet vor allem auch exzessiv die Sprache aus, die selten lustvoller verwendet wird als beim Häufen ähnlicher Wörter, beim Fluchen zumal – eine weibliche Anverwandlung der männlichen Sprachgebärden. So kommen im Buch zu den 32 des Manuskripts noch acht weitere Flüche hinzu, „die Beatriz de Dia auf der Straßenbaustelle, vormals Almaeiz, nach und nach entfuhren“: von Krachwedel bis Schindäser.

Foto: DLA Marbach

Deutsch-deutscher Sprachwechsel bei Volker Braun

„Da bin ich noch, mein Land geht in den Westen“: Mit dieser berühmten Zeile beginnt Volker Brauns Gedicht „Das Eigentum“, das sich mit dem politischen Systemwechsel von 1989 auseinandersetzt und ein lyrisches Autor-Ich entwirft, das mit dem Wechsel auch seine sprachlichen Bezugskoordinaten verloren hat: „Und unverständlich wird mein ganzer Text“.

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Sprach- und Medienwechsel bei Jurek Becker – „Jakob der Lügner“ als Roman und Drehbuch

Mit der Publikation seines Romans „Jakob der Lügner“ wird Jurek Becker im Osten wie im Westen berühmt: Das Buch erscheint 1969 bei Aufbau in der DDR, gleich im Folgejahr bei Luchterhand in der BRD. Die Geschichte um Jakob Heym und seine erfundenen Radiomeldungen im jüdischen Ghetto verfasst Becker ursprünglich als Drehbuch für die Deutsche Film AG (DEFA). Die Produktion beginnt 1966, wird aber sofort wieder eingestellt, nachdem der Regisseur Frank Beyer wegen seines als partei- und staatsfeindlich eingestuften Films „Spur der Steine“ aus der DEFA verbannt wird.

Da „Jakob der Lügner“ als Roman erfolgreich ist, kann die Verfilmung 1974 unter der Regie Beyers doch noch realisiert werden, der Film trägt der DDR ihre einzige Oscar-Nominierung ein. In der Hauptrolle ist der tschechische Schauspieler Vlastimil Brodský (synchronisiert von Norbert Christian) zu sehen, der als bester Schauspieler auf der Berlinale 1975 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wird.

Foto: DLA Marbach

Über die Worte „Ich bin“ – Zeichen- und Sprachenwechsel bei Yoko Tawada

Für das japanische Wort „bin“ braucht man 11 Pinselstriche (瓶), für das deutsche Homophon höchstens 6; beide Wörter aber bieten Yoko Tawada (geb. 1960) genügend Anregung zum Schreiben. Die 1982 von Japan nach Hamburg übergesiedelte Schriftstellerin schreibt auf Deutsch und Japanisch, manchmal auch in beiden Sprachen oder eben zwischen den Sprachen – den „Überseezungen“, wie auch ihr 2002 erschienener Essayband heißt.

Foto: DLA Marbach

Von Klara Blum zu Zhu Bailan – Klara Blum 1946 an Manfred George

„Der ‚Aufbau‘ veröffentlicht ja, wie ich gesehen habe, oft Gedichte und meistens sehr schöne.“ Am 1.10.1946 schickt die jüdische Schriftstellerin Klara Blum (1904–1971; später Zhu Bailan / 朱白兰) von Paris aus einen Brief sowie einige Gedichte an Manfred George, der zwischen 1939 und 1965 als Chefredakteur der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“ tätig ist. Wie sie im Brief schildert, wurde Blum 1933 für eine zweimonatige Studienreise nach Moskau eingeladen: „Aus diesen zwei Monaten wurden ‚dank‘ dem Faschismus elf Jahre.“ Über mehrere Zwischenstationen gelangt sie 1947 nach China, setzt dort neben ihrer Lehrtätigkeit an mehreren chinesischen Universitäten ihre literarische Praxis fort und übersetzt u.a. Gedichte des chinesischen Staatschefs Mao Tse-Tungs ins Deutsche.

1946 hat Blum bereits in den Exilzeitschriften „Internationale Literatur“ und „Das Wort“ veröffentlicht, ihre Gedichte wurden, wie sie behauptet, „ins Englische, Spanische, Russische, Tatarische, Yiddische, Persische und Äthiopische übersetzt“. In der DDR erscheinen einige Lyrik- und Prosawerke Blums bei Volk & Welt und beim Greifenverlag.

Foto: DLA Marbach

Deckblatt mit Scherenschnitten – Klara Blums unveröffentlichter Roman „Schicksalsüberwinder“ (1961)

Nachdem sie sich beschließt, in China zu bleiben, nimmt Blum den Vornamen „Bailan“ – auf Chinesisch „weiße Orchidee“ – an. Auch wenn sie die Sprache ihres Wahllandes nie gut beherrscht, so sind viele ihrer deutschsprachigen Werke von Anspielungen auf China und chinesischen Motiven geprägt, wie z.B. ihr Roman „Der Hirte und die Weberin“ (1951), in dem sie die berühmte chinesische Legende umschreibt.

Blum sieht ihre Aufgabe als Schriftstellerin darin, Wissen über die Volksrepublik China an Leser:innen in der DDR zu vermitteln. Dort wird sie eine Zeit lang auch mit Begeisterung gelesen: Noch 1959 reist sie auf Einladung des Deutschen Schriftstellerverbandes und des Greifenverlags in die DDR. Bereits ein Jahr später verschlechtern sich jedoch die Beziehungen Chinas zum Ostblock: Blums letzter, der Kommunistischen Partei Chinas gewidmeter Roman „Schicksalsüberwinder“ findet in der DDR keinen Verlag mehr.

Foto: DLA Marbach

Schreiben zwischen den Sprachen, lesen zwischen den Zeilen – Stefan Heym 1967 an Wilhelm Girnus

Nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil lässt sich Stefan Heym in der DDR nieder, verfasst seine Werke weiterhin auf Deutsch und auf Englisch. Sein Roman „Lassalle“ erscheint 1969 zuerst auf Englisch („Uncertain Friend“), in vom Autoren selbst verfasster deutscher Übersetzung im gleichen Jahr – allerdings nicht in der DDR, sondern beim Bechtle Verlag in München. Für die Veröffentlichung bei einem westdeutschen Verlag wird Heym zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt, der Roman erscheint erst 1974 im ostdeutschen Verlag Neues Leben.

Bereits 1967 schickt Heym ein frühes Manuskript mit dem Titel „Love and Death of a People’s Hero“ an den damaligen Chefredakteur von „Sinn und Form“, Wilhelm Girnus. Das Manuskript wird abgelehnt, mit der Begründung, Lassalle sei nicht „geeignet, unserem Leser als dieser Volksheld vorgeführt zu werden“. Im Roman wird Lassalle jedoch, wie Heym in seinem Antwortbrief beschreibt, wenig schmeichelhaft dargestellt, der Manuskripttitel ist größtenteils ironisch zu verstehen: „Abgesehen von den fragwürdigen Praktiken Lassalles, auf die ich bereits einging, geht es in dem Roman gerade um den Konflikt zwischen dem Charlatan und Opportunisten einerseits und dem echten Arbeiterpolitiker andererseits, der in der […] Gestalt des Vahlteich verkörpert ist. […] All das ist in dem Buch enthalten, und so deutlich, dass es jedem ins Auge springen muss, der auch nur einigermaßen gelernt hat, wie es so schön heißt, querzulesen.“

Foto: DLA Marbach

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Das Kurationsteam hat sich bemüht, die Rechte des abgebildeten Briefs zu klären, was bisher jedoch nicht gelang. Sollten sich die Rechteinhaber finden, bitten wir darum, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Jüdische Exilliteratur aus Shanghai – Fritz Friedländer 1964 an Kurt Pinthus

In den 1930er- und 1940er-Jahren emigrieren viele Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen nach Shanghai, da dort zeitweise keine Visapflicht gilt. Für viele ist es nur ein Transitort auf dem Weg nach Amerika. Der jüdische Literaturwissenschaftler und Journalist Fritz Friedländer (1901–1980) kommt 1939 nach Shanghai, wo er einige Jahre als stellvertretender Herausgeber der deutschsprachigen Shanghai Jewish Chronicle tätig ist, bevor er 1946 weiter nach Melbourne reist. In einem Brief an den nach New York emigrierten Kurt Pinthus (1886–1975) schildert er die Situation der jüdischen Exilanten in Shanghai.

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