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Verdichten. Hölderlin im Archiv lesen

Hölderlin hat wie kein zweiter deutschsprachiger Dichter das Bild geprägt, das wir bis heute von der Poesie haben: ein dunkles, nicht ganz verständliches, aber schönes und berührendes Sprechen eines Ichs im Ausnahmezustand. Paul Celan knüpft an diese Tradition an: Poesie wird ihm zum existenziellen Anliegen, das, um sich angemessen auszusprechen, höchst artifiziell und in Teilen hermetisch ist.

Doch wie sehen Gedichte überhaupt aus, wenn sie entstehen? Mit welchen sichtbaren Verfahren wird ein Gedicht ‚verdichtet‘?  Was bleibt von diesem Entstehungsprozess im Archiv sichtbar? X

 

Wir haben Gedichtmanuskripte und -entwürfe aus anderen Nachlässen des Deutschen Literaturarchivs gesichtet (u.a. von Gottfried Benn, Hilde Domin, Jakob van Hoddis, Hugo von Hofmannsthal, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler und Rainer Maria Rilke) und zu einem bruchstückhaften Glossar der Poesie im Archiv geordnet – von „Schön“ und „Nur für Dich“ über „Atmen“ und „Zerlegen“, „Formatieren“ und „Verklären“ bis „Unsicher“. Je ein Exponat aus jeder dieser Kategorien stellen wir hier vor Plus zwei Zugaben.

Foto: DLA Marbach

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auch dies:

Wir sind uns alle schwesterlich.

Aber Abende gibts, da wir frieren

und einander langsam verlieren, –

Und eine jede möchte ihren

Freundinnen flüstern: Du fürchtest Dich …

Die Mütter sagen uns nicht, wo wir sind,

und lassen uns ganz allein, –

wo die Ängste enden und Gott beginnt

werden wir vielleicht sein …

22.V.98 Viareggio al mare

Eine singt:

Ich war in ferner Fremde Kind,

bis ich mich: arm und zart und blind –

aus meinem Schämen schlich;

ich warte hinter Wald und Wind

gewiss schon lang auf mich.

Ich bin allein und weit vom Haus

Und sinne still: wie seh‘ ich aus; –

————–

fragt jemand, wer ich sei?

…. Gott ich bin jung, und: ich bin blond

und habe ein Gebet gekonnt,

und geh‘ gewiss, umsonst umsonnt

und fremd, – an MIR vorbei ..

1. Schön / Rilkes Buch mit „Lieder der Mädchen"

 

Gedichtmanuskripte sind häufig so ins Reine geschrieben, dass scheinbare Äußerlichkeiten wie Schrift und Papier zum Teil des Gedichts werden. Wo die Form wie in der konkreten Poesie das Gedicht macht, geht es gar nicht anders. Aber auch die (blasse) Farbe der Tinte kann eine Rolle spielen.

Der 23-jährige Rainer Maria Rilke schrieb vom 3. bis zum 22. Mai 1898 nahezu täglich auf eine Seite des in Florenz gekauften Büchleins ein Gedicht, stets mit Datum und Ort der Niederschrift: San Domenico, Florenz, Ripoli, Fiesole, Via di Chianti, Rovezzano, San Miniato.

Im Deckel hielt er fest: „beendet an diesem seltsamen Offenbarungssonntag inmitten von Sonne, Sehnsucht und Seligkeit“. In seinem Tagebuch beschrieb er die Wirkung seiner aufgeschriebenen „Lieder der Mädchen“: „Ich sang das eine, weinte das zweite, Spielzeug in den Händen dieser zarten blassen Lieder.“

Foto: DLA Marbach

2. Nur für Dich oder: Wem sonst als Dir / Celans „Mohn und Gedächtnis" für Ingeborg Bachmann

 

Gedichte geben sich als private, intime Texte aus. In ihnen spricht einer, höchstens zwei. Meist redet ein Ich ein Du an. Da wir, wenn wir Gedichte lesen, die Stelle des Ich einnehmen, können wir Gedichten nur schwer widersprechen. Sie sind inklusiv exklusiv und im Archiv häufiger als andere Textgattungen Liebesgaben.

Nur in manchen Fällen, ebenfalls im Archiv überliefert, ist die Reaktion der Beschenkten. Nicht jeder will Teil eines Gedichts werden.

1954 schenkte Paul Celan die zweite Auflage seines Gedichtbands „Mohn und Gedächtnis“ (1952) Ingeborg Bachmann. 22 Gedichte markiert er mit „f.D.“ („für Dich“), ein weiteres mit „u.f.D“ oder „n.f.D.“ („und für Dich“ oder „nur für Dich“): „Sie kämmt ihr Haar wie mans den Toten kämmt“.

Die 23 Gedichte sind allesamt Liebesgedichte aus der Zeit, als sich Celan und Bachmann im Frühling 1948 in Wien ineinander verliebten und er sie mit Mohnblumen „überschüttet“. 1949 schickte ihr der 28-jährige Celan zu ihrem 23. Geburtstag aus Paris eine Karte: „weil ich möchte, dass niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebenso viel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf deinen Geburtstagstisch stelle.“

Celans darauf anspielendes Gedicht „Corona“, das mit „Es ist Zeit“ endet, wies Ingeborg Bachmann per Brief zurück: „Aber mir hier wird es nicht ,Zeit‘.“

Foto: DLA Marbach

3. Atmen / Celans Wortmaterial für „Sprachgitter"

 

In den Wörtern eines Gedichts stecken Sprechweisen, Klänge und Rhythmen und damit in einem ganz physischen Sinn: Luft – es sind Wörter, denen wir ein Volumen geben können, die wir in die Länge ziehen, laut oder leise sprechen und bei denen wir die Lippen und die Zunge auf eine bestimmte, sorgfältige Weise bewegen. 

„Partikelgestöber“, „Kelchblatt“, „Verbracht“, „Porenbau“, „Tausendkristall“, „Rauchseele“, „Nacht-und-Nacht“, „taggrau“ sind die Zungenbrecher in Celans „Engführung“. Bei Hölderlin gibt es „Geistesschönheit“, „Goldgewölk“, „Pflanzenglück“, „Purpurtraube“, „Quellgebirg“ und „Schmetterlingsflug“. Im Archiv findet man solche poetischen Atem- und Vorstellungsübungen häufig noch unverbunden – als Worterscheinung, Wörterinsel oder -meer.

Paul Celan legt sich für die Gedichte, die er später im Band „Sprachgitter“ veröffentlicht, Wortlisten zu geologischen Begriffen an – von Stein, Kies und Geröll bis zu Fachbegriffen wie Kolk (eine Vertiefung im Flussbett). Mit einer Zeichnung vergegenwärtigt er sich Deichformationen – für ihn Material einer eigenen Sprachwelt: „Laven, Basalte, weltherz- / durchglühtes Gestein. / Quelltuff, / wo uns das Licht wuchs, vor / dem Atem“ („Entwurf einer Landschaft“).

Foto: DLA Marbach

4. Zerlegen / Sarah Kirschs Jambus

 

Die kleinsten Teilchen eines Gedichts sind seine musikalischen Dimensionen: Klang und Rhythmus. Sie sind das vorschwebende akustische Gestaltschema, mit dem man Gedichte (fast) ohne Worte schreiben kann und für das man die Sprache noch einmal anders denkt, von ihren Elementen, Funktionen und Positionen aus sieht und in einzelne Bauteile zerlegt.

Der Sprachwissenschaftler Roman Jakobson hat daraus eine berühmte Definition der poetischen Sprache abgeleitet: „Jede Sequenz ist ein Simile“. Ein Vers, ein Wort, ein Klang ist ein Spiegelbild und Echo des anderen. Im Archiv sind die Hilfskonstruktionen für dieses Andersdenken der Sprache erhalten. 

Sarah Kirsch zeichnet 1981 in ihr Notizbuch einen vierhebigen Trochäus: betont – unbetont. In dieses Maß passen Wörter wie „Schweinefüßchen“, „rote Jahrestag“ und „atemlosen Radiosprecher“, aber ausgerechnet nicht das Wort „Revolution“, das Kirsch daher zu „Revlution“ zusammenstauchen muss.

Foto: DLA Marbach

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Auf der Rückseite:

 

Ein Wort

Ein Wort, Ein Satz – : aus Chiffern steigen

erkanntes Leben, jäher Sinn

die Sonne steht, die Sphären schweigen

und alles ballt sich zu ihm hin.

 

Ein Wort – , Ein Glanz, Ein Flug, ein Feuer,

Ein Flammenwurf, Ein Sternenstrich –,

und wieder Dunkel, ungeheuer,

im leeren Raum um Welt und Ich.

 

Foto: DLA Marbach

5. Formatieren / Benns „Ein Wort"

 

„Poems“ nannte der Künstler Carl Andre Balken, die er in den 1960er-Jahren auf dem Papier zu Text-Formationen anordnet. 1951 spitzte Gottfried Benn zu: „Wenn Sie am Sonntag morgen Ihre Zeitung aufschlagen, und manchmal sogar auch mitten in der Woche, finden Sie in einer Beilage meistens rechts oben oder links unten etwas, das durch gesperrten Druck und besondere Umrahmung auffällt, es ist ein Gedicht.“

Gottfried Benn hat eines seiner berühmtesten Gedichte 1941 exakt in Form geschrieben. 14,3 × 9,1 cm misst die kleine Karte, auf der er zunächst im Hochformat beginnt, sie dann aber umdreht und quer verwendet, als müsse er die Wörter und Satzzeichen, die durch diese erste rigide Formatbeschränkung zu bedeutungsschwer geworden sind, ins Breite ziehen und ins Laufen bringen.

Foto: DLA Marbach

6. Verklären / Hesses „Stufen"

 

Einer der ersten, der seine Gedichte datiert, ist Friedrich Georg Klopstock. Er ordnet seine Oden chronologisch zur Autobiografie in Gedichten. Poesie scheint untrennbar mit einem ganz besonderen Augenblick verbunden. Dieses Verklären gewöhnlicher Daten geht Hand in Hand mit dem Gegenteil – einer allmählichen Entfernung des Autors von seinem Gedicht: 

„Nur ‚gedichtlang‘ sind wir die Mitwisser unserer eigenen Gedichte“, schrieb Celan, „wären wir es über die Dauer seines Entstehens hinaus, unser Gedicht würde damit das Geheimnis des uns Begegnenden verlieren – wir sind auch als deren Ich, das erste Du unserer Gedichte –, es wäre, da es ja nicht mehr auf uns zukäme, von uns aus und somit jederzeit herstellbar – und also kein Gedicht mehr.“ Die Wörter durchlaufen einen Prozess, erfahren einen „qualitativen Wechsel“, um „zum Wort im Gedicht“ zu werden.

Hermann Hesse schrieb am 4. Mai 1941 nachts, so gibt er es zumindest auf den Maschinenabschriften an seine Freunde an, sein heute bekanntestes Gedicht – „Stufen“.

In Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“, der 1943 erscheint, gibt es noch eine zweite Entstehungsgeschichte – angeblich hat die Hauptfigur Josef Knecht das Gedicht in jungen Jahren geschrieben: „Sichtlich war die Überschrift des Gedichts, noch vor dem Gedichte selbst, als dessen erste Zeile entstanden. Mit großen Buchstaben in stürmischer Handschrift war sie hingesetzt und lautete: ‚Transzendieren!‘ Später erst, zu einer anderen Zeit, in anderer Stimmung und Lebenslage, war diese Überschrift samt dem Ausrufezeichen gestrichen und war in kleineren, dünneren, bescheideneren Schriftzeichen dafür eine andere hingeschrieben worden. Sie hieß ‚Stufen‘.“

Foto: DLA Marbach

7. Unsicher / Celans „Folie"

 

Gedichte sind keine Texte, die etwas klar und eindeutig sagen. Sie führen uns in unsichere Bereiche und verwandeln diese Erfahrung sogar in eine schöne Erfahrung. Der englische Lyriker John Keats hat 1817 die Fähigkeit des Menschen, „sich in einem Zustand voller Unsicherheiten, Geheimnisse und Zweifel zu befinden, ohne sich nervös nach Tatsachen & Vernunft umzusehen“ als „negative capability“ bezeichnet und als existentielles Moment der Poesie beschrieben.

Paul Celan notiert ein einzelnes Verspaar mit Bleistift mitten auf ein Blatt Papier: „Es ist dir unterlegt / die Nacht als Folie“. Kein unmittelbarer Kontext hilft weiter, der Verweis „Schmelz“ unten auf der Seite führt ins Leere.

„Folie“ bleibt mehrdeutig, kann Hintergrund, Untergrund oder durchsichtige Schicht bedeuten, aber auch im Sinn von lateinisch ,folium‘ = ,Blatt‘ oder von französischischen ,folie‘ = ,Verrücktheit, Wahnsinn‘.

Nach seinem Besuch in Tübingen im Januar 1961 schrieb Celan an den Esslinger Bürgermeister Dieter Roser: „Eßlingen blieb, wie der Hölderlinturm, Schneebild und Folie.“

Foto: DLA Marbach

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Ich spür‘ noch ihren Athem auf den Wangen –

Wie kann das sein, dass diese nahen Tage

Fort sind, für immer fort und ganz vergangen?!

 

Dies ist ein Ding, das keiner ganz aussinnt;

Und viel zu grauenvoll als dass man klage:

Dass alles gleitet und vorüberrinnt

 

Und dass mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,

Herüberglitt aus einem kleinen Kind,

Mir wie ein Hund unheimlich, stumm und fremd,

 

Dann: dass ich auch vor hundert Jahren war

Und meine Ahnen, die im Todtenhemd,

Mit mir verwandt sind wie mein eigen Haar,

 

So eins mit mir, als wie mein eigen Haar.

8. Schön / Hofmannsthals Terzine „Über Vergänglichkeit"

 

Der 20-jährige Hugo von Hofmannsthal schrieb im Juli 1894 seine Terzine ins Reine, indem er die ersten beiden Strophen neu schrieb und an die anderen anklebte – anders als im Druck noch mit dem griechischen Motto von Heraklit „dass alles sich bewegt und nichts bleibt“, das er am Ende der zweiten Strophe wiederholt und mit einem Bleistiftstrich markiert.

Foto: DLA Marbach

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Auf der Rückseite entschlüsselt Benn für Ilse Kaul mit „Fussnoten“ das „umstehendem Gedicht (hochgezüchteter Intellectualität) für Nicht-Philosophen und Nicht-Humanisten (z.B. das Elfenbeingesicht I.K.)“:

„1) Die Menschheit ist zu Ende, die Erde fertig; die Schöpfung wendet sich neuen Räumen und neuen Verwandlungen zu (eines meiner Grundgefühle in Anbetracht der völlig entleerten, ausgelaugten Rassen u. Gehirne). 2) Ptolemäus, ein griechischer Philosoph und Geograph, schuf das erste geographisch-kosmische Weltbild: die Erde im Mittelpunkt. Dies galt bis Copernikus u. Galilei –, nun drehte sich die Erde um die Sonne. Alles blödsinnige physikalische Hypothesen. Seelisch blieb bis heute Ptolemäus im Gefühl: der Mensch nahm sich zentral wichtig. 3) Quartär: unser Erdzeitalter, der Mensch, ohne Haarkleid, mit Technik, der Nach-affe – jetzt vorbei u. zu Ende, s. Nr. 1. 4) Styx: der Totenfluss. / Kuss!“

9. Nur für Dich oder: Wem sonst als Dir / Benns „Quartal" für Ilse Kaul

 

Der 60-jährige Gottfried Benn schenkt 1946 der 33-jährigen Ilse Kaul zwei Monate vor der Hochzeit eine Abschrift von „Quartär“ mit einem Liebesbrief: „Liebste, gestern Mittag bei mir sahst Du wunderschön aus: glatt, sanft, ruhig; – bleibe immer so – unter meinen Küssen! Liebe ist: Gutes und Böses, Leichtes und Schweres: Alles! Spiel und Trauer! Dein G.“

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